In meinem Blogbeitrag vom 28. 01. 2020 habe ich die Frage gestellt, nach welchen Nürnberger Gesetzen das Wort Migrationshintergrund eigentlich zustande gekommen sei. Denn lese ich die Definitionen, vor allem auch solche, die, wie die des statistischen Bundesamtes, Grundlage für staatliches Planen und Handeln sind, dann schreit mir das von Verunreinigung bedrohte deutsche Blut förmlich entgegen, so rassegesetzlich geht es hier zu.
Dass Eingewanderte irgendwann einmal in einem anderen Land gelebt haben, liegt auf der Hand. Ich weiß allerdings nicht, was es klärt, wenn man ihre Erfahrungen vor, bei und nach der Aus- und Einwanderung Migrationshintergrund nennt. Hier hat jemand mit universitärem Bildungshintergrund ein Neuwort erfunden, das sich schön spreizt, aber über die Migrant:innen wenig sagt. Es sei denn, man nimmt mit ihm auch ihre Nachkommen mit in den Blick. Dann sagt das Wort etwas über Abstammung und wird in diesem Sinn blutig: Migrationshintergrund hat, den einschlägigen Definitionen zufolge, wer in Deutschland geboren wird, ohne sich vorher zu vergewissern, ob seine beiden Eltern auch Deutsche sind.
Darum geht es bei dem Wortgebrauch. Sind Mutter und Vater im Besitz entsprechender Papiere, die ihr Deutschsein beweisen, können sie sich sogar im Ausland aufhalten, es hat keine Folgen. Kommt ihr Kind dort zur Welt, lernt die dortige Landessprache auf der Straße und in der Schule und wandert erst nachträglich nach Deutschland ein, dann steckt ihm das für Deutschland nötige Deutschsein trotzdem zu Genüge im Blut. Denn Blut ist dicker als Wasser und reist nicht wie dieses einfach mal so in der Weltgeschichte herum, auch dann nicht, wenn die Kindeseltern ihm Beine gemacht haben. Sodass einem solchen Kind alles Ausland, in dem es ja schließlich nichts als aufwächst, ganz und gar äußerlich bleibt und bleiben muss. Lässt es sich später in Deutschland nieder, hat es keinen Migrationshintergrund, nicht einmal als Erfahrung; Abstammung gut, alles gut, keinen kümmert es.
Wird jedoch, umgekehrt, ein Kind im Inland geboren und hat nicht darauf geachtet, dass seine Eltern, einer oder gar beide, von fremden Blut durchströmt werden, dann bleibt ihm das Inland, in dem auch es ja schließlich nichts als aufwächst, ewig ein Ausland, fremd und äußerlich. Es lebt halb oder ganz im Blut und im Land seiner Vorfahren und – obwohl es die Sprache und Merkwürdigkeiten des Inlandes auf der Straße und in der Schule lernt, ganz wie alle anderen, die es dort trifft – es hat Migrationshintergrund, geht in die Statistik ein und wird, auch von Staats wegen und planerisch, als Problem behandelt. Abstammung zählt auch in diesem Fall mehr als seine sämtlichen Erfahrungen.
Jeder Mensch, der in Deutschland geboren werden will, ist deshalb gut beraten, sich vorab ausführlich mit der Materie zu beschäftigen. Man kann sich leicht vertun. Es kann vorkommen, dass einer sein ganzes Leben Migrationshintergrund hat, aber es wird ihm nie gesagt. Das passiert am ehesten in wohlhabenden und gebildeten Kreisen und dürfte, falls es herauskommt, auch schon mal als verpasste Gelegenheit empfunden werden, sich noch interessanter zu machen, als man ohnehin schon immer ist. Andersherum gibt es manche Person, die denkt, sie habe Migrationshintergrund, zumal es ihr, zum Beispiel wegen ihres Aussehens, von ungebetener Seite ein Leben lang unter die Nase gerieben wird, und sie hat ihn, statistisch gesehen, nicht. Das wiederum passiert eher in Kreisen, in denen ein (von anderen) zugeschriebener Migrationshintergrund sich ähnlich negativ auswirkt wie ein nach allen blutigen Regeln statistischer Klassifizierungskunst konstatierter. Darüber hinaus existieren feine Abstufungen, was die Güte des Blutes angeht, das im Hintergrund rauscht, selbst Mischblut ist nicht gleich Mischblut. Zum Beispiel führt auch EU-Blut im Kind zu Migrationshintergrund, aber nicht in jedem Fall mit den gleichen ernsten Konsequenzen wie Nicht-EU-Blut.
Wer das alles bei der Wahl seiner in Deutschland lebenden Eltern nicht bedacht hat, wird im sensiblen Alter zwischen achtzehn und 23, höchst offiziell, aber aus der eisig Kalten gefragt, ob er oder sie denn Bürger oder Bürgerin des einzigen Landes bleiben möchte, das er oder sie von Grund auf kennt, in dem er oder sie die Schulbildung durchlaufen oder genossen hat, die ersten Freunde getroffen oder sich das erste Mal verliebt hat. Die Frage ist so kränkend, dass es eigentlich unter aller Würde ist, sie anders als mit Nein zu beantworten: Bürger oder Bürgerin eines Staates, der in seinem immerwährenden Misstrauen gegen meine Eltern in der Lage ist, mir so eine Frage zu stellen, möchte ich nicht sein.
Doch ich will nicht wirklich wissen, was alles passieren kann, wenn ein Mensch – aufgrund seines Migrationshintergrundes im Blut vom Staat in die Mangel der Optionspflicht genommen – die deutsche Staatsbürgerschaft indigniert ablehnt. Hiesige Behörden verfolgen mit Ingrimm harmlose Kiffer und Schwarzfahrer für ein paar Gramm Gras oder nicht gelöste Fahrscheine im Wert von je 2,50. Es sind unter Umständen die selben jungen Leute, die auf dem selben Bolzplatz gekickt, in der selben Klasse gepaukt haben, die es trifft. Landen von ihnen die einen wegen Nichtigkeiten im Knast und die anderen wegen gleicher Nichtigkeiten im Abschiebeflieger, je nachdem, nämlich nach Pass sortiert? Ich befürchte es.
In einer spanischen Zeitung las ich neulich, politisch korrekt gebildet und geschrieben von den racializad@s, den Verrassten. Das ist genau das, was das Wort Migrationshintergrund in seiner offiziellen Definition, also von Staats wegen macht: Es verrasst in Deutschland geborene Kinder. Auf dem Boden seiner schönen Scheinwissenschaftlichkeit können Unwörter wie Bio-Deutsche oder Pass-Deutsche gedeihen, mit denen alle hier zur Welt Gekommenen und Aufgewachsenen in zum wahren Deutschsein berechtigte oder unberechtigte Personen geteilt werden. Ich würde, könnte ich, das Wort sofort verbieten.
Aber Sprachpolitik hat wenig Sinn, solange an den Verhältnissen sich nichts ändert, die inkriminierten Wörter spiegeln nur. (Obwohl es selbstverständlich erfrischend wäre, würde die überflüssige Zuordnung „Du hast doch Migrationshintergrund, oder?“ künftig mit einem „Ey, Alter, verrass mich nicht!“gekontert.) Was muss also verschwinden, damit das Wortungetüm irgendwann ausgespukt hat? In meinen Augen – auch im Hinblick darauf, welche konkreten Forderungen an die Politik nach dem Terroranschlag in Hanau sinnvoll wären – die Optionspflicht. Die muss weg. Wer hier geboren ist, wer hier zur Schule gegangen ist, muss ohne Wenn und Aber und unabhängig von der Herkunft seiner Eltern und einer eventuell bestehenden zweiten Staatsbürgerschaft Deutsche oder Deutscher sein: Territorialprinzip, Gleichstellung mit den Findelkindern! Werden alle hier geborenen und aufgewachsenen Kinder schon einmal rechtlich gleich behandelt, ist wenigstens eine Voraussetzung dafür geschaffen, dass das Problemfallstempelwort Migrationshintergrund langsam zu einem Soziolog:innenbegriff unter vielen werden kann. (Im Privatleben wird aus Migrationshintergrund schlicht und viel treffender: die Geschichte meiner Familie.)
Das sieht nach einer kleinen Forderung aus, aber ich verwette meine gesamte in Rentenpunkten angelegte Altersarmut: Mit dieser Forderung konfrontiert würden die allermeisten Politiker:innen, parteienübergreifend im Übrigen, sich drehen und winden wie sonst nur, wenn es dem deutschen, Ungleichheit kräftig fördernden Schulsystem an den Kragen gehen soll. Und das tun sie ganz und gar zu Recht, es ist das Gleiche. Das Drei-Klassen-Schulsystem (aus wilhelminischen Zeiten des Drei-Klassen-Wahlrechts) ist ein Mittel gegen zu viel Durchlässigkeit der Gesellschaft, die rechtliche Sonderbehandlung von Menschen im Fall von Migrationshintergrund ist ein anderes. Oben will man unter sich sein; Deutschland ist so durch und durch rassistisch, weil es durch und durch klassistisch ist.