Morgens um 8:00 Uhr, als die Wahlbüros in der Hugo Dávila Schule im Miraflores-Viertel von La Paz öffnen, ist es noch kalt und wenig Betrieb. Vor dem Tor werden Sandwiches mit gebratenem Schweinefleisch, frittierte Mehlkuchen und heißes Maisgetränk verkauft.
Anders als in den Wahlbüros, in denen die Wähler*innen zu dieser frühen Stunde noch zügig abgefertigt werden, gibt es auf der anderen Seite an der Schule „Vereinte Nationen“ bereits eine lange Schlange. Es sind jene, die es nicht geschafft haben, am Wahltag in ihre Gemeinde zu kommen. Wegen einer Arbeit, einem Notfall oder auch, weil es wegen Benzinmangel keine Transportmöglichkeiten mehr gab. Nun stehen sie für eine kleine Bestätigung an, um keine Strafgebühren bezahlen zu müssen. In Bolivien herrscht Wahlpflicht.

Zwei Stunden später lässt sich erstmals die Sonne blicken, die Wahlbüros füllen sich. Und während die Innenstadt von La Paz wegen dem allgemeinen Verbot des Autoverkehrs bis auf einige Fußgänger und Fahrzeuge mit Sondergenehmigung leer erscheint, entwickelt sich in den Randvierteln wie Villa Copacapana oder Pampahasi fast so etwas wie Volksfestcharakter. Etwas überraschend, gelten diese Viertel doch bislang als Hochburgen der regierenden MAS, die laut Vorhersagen droht, die Macht zu verlieren.

Vor allem mit Garküchen und Essensständen lässt sich heute mitten in der wirtschaftlichen Krise etwas Geld verdienen. In Villa San Antonio wurden aber auch Hüpftrampolins aufgestellt. Kinder fahren Fahrrad, Hunde werden spazieren geführt. Der Taxifahrer, der Mónica Gutierrez in diverse Wahlbüros fahren soll, schimpft. Es sei doch kein Autofreier Sonntag. Trotzdem kann er nur sehr langsam fahren. An manchen Stellen gibt es überhaupt kein Durchkommen.

Gutierrez, Direktorin der Nichtregierungsorganisation Centro de Promoción de la Mujer Gregoria Apaza, hat heute die Aufgabe, Wahlbeobachter*innen des Bündnisses „Observa Bolivia“ zu begleiten, vor Ort nach dem Rechten zu sehen und gegebenenfalls Probleme an die Zentrale zu melden, die die Information auswertet. Entgegen vorheriger Sorgen funktionieren die Wahllokale in ihrem Aufgabenbereich heute weitgehend problemlos. Hier ein Streit um die Annullierung einer Stimme, dort die Beschwerde, dass ein Wahlbüro nicht die vorgeschriebenen acht Stunden geöffnet war und späte Wähler*innen nicht mehr ihre Stimme abgeben konnten.

Das weitest entfernte Wahlbüro, das Gutierrez heute besuchen muss, ist schon nicht mehr über asphaltierte oder gepflasterte Wege zu erreichen und ist bereits ländlich. Willkommen im Ayllu (traditionelle Dorfgemeinschaft) Chinchaya steht auf einem Transparent, das den Ortseingang überspannt. Die Journalistin Maria Teresa Genda hat hier den Ablauf beobachtet. Alles in Ordnung, meint sie. Früher hat sie in wichtigen bolivianischen Medien gearbeitet. Seit fünf Jahren findet sie aber nur noch Gelegenheitsarbeiten. Nachdem der Taxifahrer sich an einem der Stände, die auch hier aufgebaut sind, verpflegt hat, fährt Genda mit zurück nach Pampahasi einem Bergzug am Nordosthang von La Paz, um selbst auch noch wählen zu können.

Ob in Pampahasi, Villa San Antonio, Villa Harmonía oder Villa Copacapana, wo zum Schluss der Wahllokale schließlich auch noch Präsidentschaftskandidat Manfred Reyes Villa auftaucht, um seine Direktkandidatin zu unterstützen: Überall fällt auf, dass fast nur Delegierte von Samuel Doria Medinas UNIDAD und Jorge Tuto Quirogas Parteienbündnis LIBRE die Wahl und später dann die Auszählung verfolgen. Die MAS oder Andrónico Rodriguez Allianza Popular scheinen von der Bildfläche verschwunden. Ebenso wie Rodrigo Paz Pereiras PDC, die mit diesem Kandidate teilweise wirtschaftsliberal, teilweise sozialdemokratisch ausgerichtete „Christdemokratische Partei“). Doch anders als die Vorgenannten verfügt Paz Pereira über keine breite Parteibasis und auch viel weniger Geld als die Konkurrenz. Und ausgerechnet der Sohn des Expräsidenten Jaime Paz Zamora aus Tarija sollte die große Überraschung des Wahlabends werden.

Zwar hatten die Stimmanteile bei den Wahlumfragen von mageren vier Prozent im Vorfeld stetig bis auf gut neun Prozent zugenommen. Doch wer hätte geahnt, dass der bisherige Senator von Carlos Mesas Comunidad Ciudadana bei den Hochrechnungen und der inoffiziellen Schnellauszählung der Wahlbehörde mit über 31 Prozent der gültigen Stimmen an erster Stelle landen würde. Gemeinsam mit seinem Vizepräsidentschaftskandidaten Edman Lara wird er im Oktober in der Stichwahl gegen Jorge Tuto Quiroga antreten, der mit gut 27 Prozent knapp dahinter liegt. Edman Lara ist ein ehemaliger Polizist, der von der Polizeiführung und Justiz verfolgt, inhaftiert und aus dem Polizeidienst entlassen worden war, weil er die Korruption seiner Vorgesetzten angezeigt hatte.

Der bisher in den Umfragen führende Samuel Doria Medina (siehe auch diesen Vorwahlbericht in der taz) liegt mit 20 Prozent der Stimmen abgeschlagen an dritter Stelle. Er hat bereits angekündigt, dass er Paz Pereira unterstützen wird. Doria Medina könnte als der Wahlverlierer bezeichnet werden, wäre da nicht das noch schwächere Abschneiden der diversen Fraktionen der bisherigen Regierungspartei MAS. Den größten Erfolg kann dabei noch Evo Morales verzeichnen. Er hatte dafür geworben, ungültig zu stimmen. Zieht man den üblichen Anteil der ungültigen Stimmen ab, können seiner Kampagne gut 15 Prozent der Stimmen zugerechnet werden. Andrónico Rodríguez liegt bei acht Prozent und die MAS hat es laut den vorläufigen Daten gerade noch geschafft, mit knapp über 3 Prozent die Parteizulassung zu bewahren. Hätten sie ihre Stimmen vereint, hätte sogar der Einzug in die Stichwahl im Bereich des Möglichen gelegen. Aber vielleicht sind manche von ihnen sogar froh, dass jetzt erst einmal andere mit vermutlich unpopulären Maßnahmen sich daran machen, die Wirtschaftskrise zu bewältigen, um selbst später wieder unter besseren Konditionen zur Macht zu greifen.
Siehe auch diese Einordnung und den Kommentar im redaktionellen Teil der taz
