vonMesut Bayraktar 15.12.2020

Stil-Bruch

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Ganz egal wo und wann, keine Migrationsgeschichte ist eine Erfolgsgeschichte. Sie verläuft nicht einspurig. So besteht die Migrationsgeschichte türkeistämmiger Menschen in Deutschland aus zwei Strängen. Es gibt einmal jene türkischen Gastarbeiter, die nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen von 1961 gekommen sind und jahrzehntelang kamen, um zu bleiben, obwohl sie wieder gehen wollten. Mehrheitlich kamen sie aus der türkischen Landbevölkerung. Sie waren Halbproletarier, die in Deutschland Proletarier wurden. Während ihre Beine den Befehlen deutscher Kapitalisten folgeleisteten, waren ihre Köpfe noch in der Türkei, die sie im Schmerz der Nostalgie und mangels politischer Aufklärung zu einer Illusion verdichteten.
Daneben gibt es den anderen Strang, nämlich den von Dissidenten, Oppositionellen, Revolutionären und Verfolgten, die im Zuge der Putsche von 1960, 1971 und 1980 in Deutschland Asyl suchten oder aus Vorsicht das Land verließen. Diese waren hauptsächlich Intellektuelle, Gebildete oder durch ihre Minderheitenzugehörigkeit Geschlagene, die von Haus aus politisiert wurden. Sie waren allesamt politisch aufgeklärt oder zumindest auf dem Weg dahin. Sie kamen nicht nach Deutschland wegen der Lohnarbeit. Sie kamen, um aus der Ferne ihre Heimat zu verändern.

Nicht selten verliefen diese beiden Stränge unabhängig voneinander. Nicht selten entwickelten jene aus dem ersten Strang Demut und jene aus dem zweiten Hochmut. Nicht selten gingen beide einander aus dem Weg und schwächten sich dort, wo sie sich hätten vereinigen und stärken können. Aras Ören, der 1969 nach West-Berlin kam, gehört zu jenen Mutigen, die beide Stränge miteinander verbanden. Er kam als Intellektueller aus Istanbul und ging unter die türkischen Arbeiter in Deutschland. Daraus entstanden die drei unverwechselbaren Gedichtbände »Was will Niyazi in der Naunynstraße« (1973), »Der kurze Traum aus Kagithane« (1974) und »Die Fremde ist auch ein Haus« (1980). Sie bilden zusammen die »Berliner Trilogie«, die 2019 erstmals in einem Band im Verbrecher Verlag erschien.

In den drei Poemen gelingt Aras Ören, der Lebensrealität türkischer Gastarbeiter einen dichterischen Ausdruck zu verleihen. Die Poeme sind nicht nur Zeugnis einer vergangenen Vergangenheit. In seinen Zeilen erfasst er zugleich die geschichtliche Bedeutung der ausgeladenen Gäste für Europa und die Gegenwart. Das macht sie frisch, lebendig und vor allem zeitgemäß. „Die Häuser, die dich in der Naunynstraße ansehen, / drehn dir mit der Vorderfront den Hintern zu, / wie stumpf gewordene Transportarbeiter / die Last nicht achten, die sie tragen. / Erst wenn du in die Hinterhöfe trittst, dann / fühlst du, dann schmeckst du, dann riechst du, / was da in der Luft liegt. / Dann merkst du – eher als / in den Neubauvierteln draußen, / wo ihre Isolierung größer ist – / daß hier die Klasse wohnt, die / diese Gesellschaft regeln zerschlagen auswischen / und neu bauen wird. / Was da in der Luft liegt, / verschlingt alle sauren Schimmelgerüche.“ Inzwischen gehören Türkeistämmige zur arbeitenden Klasse in Deutschland, die Neubauviertel werden größer und ebenso die Hinterhöfe, die in Vororte verschoben oder in ausgewählten Stadtteilen konzentriert werden.

Ören macht in seinen Gedichten deutlich, dass das Anwerbeabkommen Väter von ihren Kindern, Frauen und Eltern wegriss und Familien verstümmelte, für die es sich nicht verantwortlich fühlte. Im Grunde genommen ist das konsequent, wollten die Herrschenden doch im Heimatland vom Verkauf von Arbeitskräften daran verdienen, da sie sich nicht ausdenken wollten, auf welche Ideen junge Männer in den 19060ern kommen, wenn ihnen kein Arbeitsplatz und keine soziale Sicherheit gewährleistet werden kann. Gleichzeitig ging es den Herrschenden im Gastland wiederum nicht um die Begrüßung von Vätern, sondern darum, billige Arbeitskräfte zu importieren, die das Land aufbauen sollten, welches die eigenen Leute verwüstet hatten. Sie waren nur an den Muskeln, den Knochen, an den zwei Beinen und Armen der Türken interessiert. Denn Deutschland, das war nur ein Gastland und Gäste werden nur bewirtet, weil man weiß, dass sie bald wieder gehen werden. Bleiben sie zu lange, wirft man sie raus – so die Logik der Bürgerlichen. Die Mehrheit aber blieb, und die Söhne und Töchter blieben größtenteils, und deren Söhne und Töchter blieben alle. Das Augenfälligste wurde übersehen, nämlich dass sie Menschen waren. Das hebt Ören unmissverständlich hervor und verbindet es mit dem Politischen, etwa wenn er fragt: „Können wir nicht selber / über uns entscheiden?“, woraus er schlussfolgert: „Sind wir es, die produzieren, / müssen wir auch die sein, die bestimmen, / was produziert wird und wie.“ Dieselben Ungehaltenen sagen noch heute: Dieses Land haben wir mitaufgebaut, also gehört dieses Land auch uns. In diesem Sinn hat Ören im neuen Vorwort seine 46 Jahre alte Trilogie der ersten und zweiten Generation aus der Türkei gewidmet.

Doch die Gedichte von Ören bilden nicht bloß eine nachträgliche Würdigung der „namenlosen Niemands“ ab, wie Ören im Vorwort die ersten türkischen Gastarbeiter nennt. In der »Berliner Trilogie« gelingt es Ören gerade dadurch, dass er die triste Perspektivlosigkeit türkeistämmiger Arbeiter mit den falschen Hoffnungen ihrer Heimatssehnsucht konfrontiert, eine Flaschenpost im Fluss der Geschichte an die Heutigen zu senden. Seine Gedichte sind ein gelungenes Beispiel für die emanzipatorische Kraft des dichterischen Wortes, wozu Literatur wird, wenn sie den Enteigneten und Ausgegrenzten ihre Mittel gibt. Sie wird Bannerträger sozialer Freiheit. Gerade weil Örens spannungsreiche und von Widersprüchen aufgeladene Dichtung den Gestus von schuftenden Großvätern und Großmüttern, von Vätern und Müttern in Wörtern einfängt, hat sie für die Nachwelt was zu sagen: „Was wir in die Hand nehmen wollen, / unsere Geschichte, / müssen wir gut kennen. / Wenn wir sie in die Hand nehmen, dann ganz. / Nur eine Geschichte, die wir uns / mit allen Erfolgen und Fehlern aneignen, / ist dann unsere Geschichte.“ Die »Berliner Trilogie« in die Hand zu nehmen, bedeutet genau das, in einigen Seiten in der unterdrückten Bibliothek unserer Geschichte zu blättern. Zukunft hat nur, wer sich seine Geschichte aneignet.

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