vonPeter Strack 06.03.2021

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Toribia Lero Quispe gehört zum Volk der Sura aus dem bolivianischen Hochland und engagiert sich seit ihrem 18. Lebensjahr in indigenen Organisationen. Im Oktober 2020 wurde sie auf der Liste der Comunidad Ciudadana als Abgeordnete ins Parlament gewählt. Sie ist Vorsitzende der Kommission für Indigene Völker, Kleinbauern, Kulturen und Interkulturalität. Im Interview beantwortet sie Fragen zu den Möglichkeiten der Verteidigung indigener Rechte in ihrem aktuellen Amt. Dabei werden auch Brüche in der Parteienlandschaft deutlich, die Überraschungspotential für die Regional- und Kommunalwahlen am 7. März bargen.

Frage: Haben die von Evo Morales MAS unabhängigen indigenen Organisationen bei den Präsidentschaftswahlen auf das falsche Pferd gesetzt?

Lero: Bei den Wahlen gab es für uns keine bessere Alternative. Comunidad Ciudadana ist keine Partei mit einer festen Ideologie, sondern eine Allianz in Richtung der linken Mitte. Mich überzeugte ihr Programm, das wesentlich von Umweltaktivist*innen erarbeitet worden war. Es widmet der Umweltproblematik mehr Aufmerksamkeit als andere Parteien. Und die indigenen Völker, die Mutter Natur verteidigen, hatten im Parlament ihre Stimme verloren.

Ein weiteres gemeinsames Ziel war die Stärkung der Demokratie. Zugegeben, darunter versteht jede Person etwas anderes. Uns geht es um die interkulturelle Demokratie.

Einige haben mich kritisiert. Ich hätte mich mit den Rechten, mit den Pititas zusammengetan (die Protestbewegung, die 2019 den Rücktritt von Evo Morales erreicht hat Anm. d. Übers.). Aber Carlos Mesa kommt aus der Mittelschicht. Er ist kein Vertreter kapitalistischer Unternehmen oder Agroindustrie. Und er ist sich bewusst, dass die ethnische Diskriminierung überwunden werden muss. Comunidad Ciudadana hat mir in den ersten drei Monaten als Abgeordnete auch alle Freiheiten gelassen. Sie wissen, woher ich komme und dass ich meinen Kampf für die Rechte der indigenen Völker hier im Parlament weiterführe. Es ist nicht unbedingt ein Raum nach unserem Geschmack, aber immerhin können wir die Stimme für die Indígenen erheben. Und für alle anderen auch. So steht es in der Verfassung. Alle sind Bolivianerinnen und Bolivianer in einem plurinationalen Staat. Deshalb müssen wir interkulturelle Brücken bauen und zur Versöhnung beitragen, von der bei Rechten wie Linken so viel die Rede war. Dies geschieht letztlich durch staatliche Politik zur Integration der marginalisierten Gemeinden.

Toribia Lero beim Interview, Foto: Peter Strack

Frage: Das vorherige Parlament hat noch mit den Stimmen der MAS die Regeln geändert. So können jetzt Debatten mit einer einfachen Mehrheit abgebrochen werden. Auch diverse Ämter und Beförderungen benötigen keine 2/3 Mehrheit mehr wie früher.

Lero: Im Wahlkampf haben alle gesagt, es ginge darum, die Demokratie zurückzugewinnen. Für mich ist Demokratie eine Gesamtheit von Regeln und Werten. Und für uns ist das gesprochene Wort dabei ganz wichtig. Demokratie heißt dann auch zuhören, einen Konsens suchen und die Regeln des Zusammenlebens zu beachten. Wenn wir in einem Dorf beschlossen haben, den Acker des anderen nicht anzutasten, dann wird das auch eingehalten. Im Parlament kommen jedoch alle Gesetzentwürfe von der Regierung und werden mit ihrer Mehrheit durchgewunken. Selbst wenn wir als Minderheitsfraktion stundenlang diskutieren, wird kein Komma daran verändert. Demokratie darf aber die Minderheiten nicht erdrücken. Sie haben ein Recht auf Mitsprache.

Hier in der Kommission funktioniert es besser, weil alle Mitglieder aus indigenen Gemeinden stammen. Wir verstehen uns. Mit den Brüdern und Schwestern der Kommission haben wir uns darauf geeinigt, welche rechtlichen Rahmenbedingungen unsere Arbeit leiten werden. Da ist die ILO-Konvention 169, die Erklärung der Vereinten Nationen zu den Rechten der indigenen Völker und schließlich die bolivianische Verfassung. Jedes Mitglied hat seine Vorschläge für einen gemeinsamen Arbeitsplan eingebracht. Und da war nichts dabei, was umstritten war. Und angesichts von Meinungsverschiedenheiten, die es auch geben wird, haben wir uns darauf geeinigt, die Verständigung zu suchen.

Frage: Die für die indigenen Gemeinden kritischen Themen scheinen in anderen Kommissionen behandelt zu werden. Etwa der für ländliche Entwicklung. Und die wird von den Siedlerorganisationen kontrolliert.

Lero: Trotzdem haben wir als Kommission oder ich als Abgeordnete die Möglichkeit, Einspruch zu erheben, wenn Gesetze verletzt werden. Das ist jetzt anders als in früheren Legislaturperioden.

Frage: In der Praxis ist aber zu beobachten, wie vielerorts Bergwerksunternehmen ohne die Bevölkerung anzuhören in die indigenen und Naturschutzgebiete eindringen, so wie in San Matías oder bei den Mosetenes. Die Regierung tauscht auch entgegen der Regel langjähriges Fachpersonal des Nationalen Dienstes für Naturschutzgebiete SERNAP ohne Mitsprache der betroffenen Bevölkerung aus.

Illegale Vorbereitungen für den Goldbergbau im Indigenen Territorium der Mosetenes, Foto: OPIM/OMIM/CEPILAP

Lero: Deshalb haben wir als Kommission einen Besuchsplan erstellt und werden öffentlich machen, wo die Regierung die Rechte der indigenen Völker missachtet.

Frage: Im indigenen und Naturschutzgebiet Isiboro Sécure (TIPNIS) fehlen gerade einmal 70km Asphaltierung bei der umstrittenen Überlandstrasse. Die Kokabauern haben entgegen ihrer ursprünglichen Versprechen bereits Häuser an der Sandpiste gebaut und ein Wegenetz erschlossen.

Lero: Es fehlt gar nichts mehr. Wir hatten dafür gearbeitet, dass das TIPNIS rechtlich geschützt wird. Doch die Regierung bricht das Gesetz. Zusammen mit der Senatorin Cecilia Moyoviri Moye, die im TIPNIS aufgewachsen ist, werden wir uns dafür einsetzen, dass die Gesetze wieder respektiert werden. Es ist traurig, dass Bolivien es in so vielen Jahren nicht geschafft hat, dem auf Rohstoffexport basierenden Wirtschaftsmodell zu entrinnen. Weder Universitäten noch die Ministerien strengen sich an, Alternativen zu entwickeln. Um die Natur, um die Wälder zu schützen. Auch das TIPNIS, die Lunge Boliviens. Ohne das TIPNIS werden die Wolken fehlen, die im Hochland für Regen sorgen. Doch der Kapitalismus hat dazu geführt, dass viele Menschen nur noch auf das Geld schauen. Zum Glück gibt es aber auch noch Aktivist*innen, die sehen, dass es ohne die Natur kein Leben geben wird.

Es ist verdächtig, wie sehr die Regierung auf dem Bau der Straße besteht. Es geht da ja nicht nur um die Straße. Es geht ihnen um Geld, um Wirtschaftsprojekte, um Agroindustrie. Sie messen dem Leben und der Zukunft der Menschen keinen Wert bei. Interkulturelle Demokratie muss heißen, dieser Habgier Grenzen zu setzen.

Frage: Ist das jetzt leichter aus dem Parlament heraus, als früher als Sprecherin einer indígenen Organisation?

Lero: Jetzt bist du plötzlich umringt von Personen, die Einfluss nehmen wollen. Aber als Mitglied eines Staatsorgans stehen einem schon mehr Kommunikationskanäle zur Verfügung, um auf das Sterben der Natur hinzuweisen. Auf einer Veranstaltung zu Multinationalen Unternehmen haben wir gesehen, dass viele aus Europa sich zu Verhaltensregeln verpflichtet haben. Wenn sie diese Regeln verletzen, dann kann man das öffentlich machen.

Für die Rettung des Poopo-Sees, der praktisch ausgetrocknet war, konnten so 20 Millionen Euro von der Europäischen Union beschafft werden. Allerdings ist auch da Geld verschwunden. Angeblich ging ein Scheckheft des Gouverneurs verloren, ebenfalls von der MAS. Viel ist dann nicht mehr für die Rettungsmaßnahmen des Sees übriggeblieben. Wenn ich damals im Parlament gewesen wäre, hätte ich wenigstens protestiert und bei der EU nachgehakt. Wer weiß, wie die EU damit umgeht. Ich weiß aber auch, dass statt die zu bestrafen, die Geld entfremdet haben, diejenigen kriminalisiert werden, die solche Missstände aufdecken. Immerhin gibt es ein kritisches Bewusstsein an der Basis. Neue Führungspersönlichkeiten wachsen überall nach, so wie die Quinoa.

Frage: In Europa gab es viel Anerkennung für die Antrittsrede des Vizepräsidenten David Choquehuanca, mit seinem Eintreten für die Verständigung, das harmonische Zusammenleben, den Respekt gegenüber den traditionellen Kulturen und der Natur. Unterstützt er die Anliegen der Kommission für die indigenen Rechte, die ja in die gleiche Richtung gehen?

Lero: Die Leute im Land wissen, dass das Sonntagsreden sind. Choquehuanca ist vom Weg abgekommen. So wie die Regierung Morales, die ich in den ersten Jahren noch unterstützt habe. Ich hatte ihren Ankündigungen vertraut. Aber später blieb uns nichts anderes, als aus unseren Gemeinden heraus Widerstand zu leisten. Sprich: Alternativen und Vorschläge zu erarbeiten.

Frage: Die Überraschung bei den Regionalwahlen ist das Aufkommen alternativer Listen von Dissident*innen der MAS. Mancherorts werden ihnen gute Chancen vorhergesagt.

Kandidat*innen der Liste Jallala La Paz; rechts oben: Eva Copa. Evo Morales wollte sie nicht. Am 7. März wurde sie mit über zwei Dritteln der Stimmen zur Bürgermeisterin von El Alto gewählt.          Foto: Peter Strack

Lero: Eva Copa in El Alto ist ein gutes Beispiel. Und Tausende stehen hinter ihr. In einigen Munizipien kandidieren auch Sprecher*innen der Indigenen nicht mehr wie früher auf der Liste der MAS, sondern mit eigenen Gruppierungen.

Frage: Sind das mögliche Alliierte für die Verteidigung der Rechte der Indigenen und das Konzept des Vivir Bien? Oder sind es einfach andere Personen, die andere Interessen oder Gruppen vertreten? Der verstorbene Mallku Felipe Quispe zum Beispiel setzte eher auf wirtschaftliche Modernisierung als auf andine Agrarkultur.

Lero: Niemand ist perfekt. Auch sie mögen persönliche Interessen haben. Aber viele haben genug vom Diskurs des neuen Präsidenten und dass Evo Morales von oben herab Entscheidungen trifft. Sie wollen etwas für die Gemeinschaft tun. Sie wollen wieder sie selbst sein, zurück auf den eigenen Weg finden. Ich denke, dass sie bei den Wahlen Erfolg haben. Aber in Städten wie La Paz oder Cochabamba gibt es keine Alternativen. Da kehren viele Wähler*innen nur aus Zorn oder Unzufriedenheit zu Kandidaten zurück, von denen sie aus der Vergangenheit wissen müssten, dass sie bestenfalls das kleinere Übel, wenn nicht sogar ihre Schlächter sind. Wir müssen dann mit den Ergebnissen leben.

2009 haben wir mit der Verfassung einen neuen Weg eingeschlagen. Und diesen Weg von einer kolonialen Vergangenheit zu einem plurinationalen Staat mit dem Horizont des Vivir Bien sollten wir weiter gehen. Und wenn uns die Europäer*innen dabei unterstützen wollen, um so besser. Wir leben in einer gemeinsamen Welt und können es uns nicht leisten, die Natur weiter zu zerstören.

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