vonMesut Bayraktar 27.04.2020

Stil-Bruch

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Fast zwei Jahre hat das OLG München für die schriftliche Begründung des NSU-Urteils gebraucht. Die Urteilsbegründung für die in der Bundesrepublik historisch beispiellose Mordserie durch Faschisten umfasst 3.025 Seiten. Diese werden vorerst nicht publik. Das ordneten die Richter an, Anfang letzter Woche, auch dass die Frist für eine Revision nur einen Monat betragen soll.

Vor dem Hintergrund, dass der Verfassungsschutz die NSU-Akten 30 Jahre unter Verschluss halten will (der hessische Verfassungsschutz sieht für einen internen Bericht bis jetzt eine Sperrfrist von 120 Jahren vor!) und dass Teile der NSU-Akten im laufenden Verfahren geschreddert wurden oder auf märchenhafte Weise verschwanden, ist das ein Schlag ins Gesicht der Opfer, ihrer Verwandten, der Migranten in Deutschland und migrantischen Deutschen – ein Schlag in unser Gesicht, in das Gesicht meiner Familie, in mein Gesicht. Erst ein Aufwärtshaken durch die Exekutive, dann eine rechte Gerade durch die Judikative.

Wie viel rassistisches Gift muss in den NSU-Akten, in der NSU-Urteilsbegründung, in der NSU-Mordserie, in die der Staat prima facie verstrickt ist, stecken? Die Sperrfristen spiegeln zumindest ein Ausmaß wider. Wer wirklich Rassismus und Faschismus bekämpfen will, muss die sofortige Freigabe aller Akten und die Veröffentlichung der Urteilsbegründung verlangen, statt zu dulden, dass die Saat des Menschenhasses sich über folgende Generationen ausbreitet. Doch bekanntlich sind die Bürgerlichen in diesem wie in jedem Land Meister in Verdrängungsarbeit – mit Blick auf ihre koloniale Ausbeutungsgeschichte und die rassistische DNA, die in jeder kapitalistischen Ordnung die Verhältnisse wie ein Korrektiv durchwaltet und Unterdrückte gegen Unterdrückte hetzt.

Ich befürchte, gerade jetzt bräuchte man mutige und entschlossene Aufklärer wie Julian Assange, den man erst jahrelang in einer Botschaft schmoren, dann durch Unterlassen psychologisch foltern und schließlich mit stillschweigender Zustimmung an die korrupte US-Justiz ausliefern ließ, um im Nachhinein im Wege einer theatralischen Bundespressekonferenz seine Freilassung zu fordern.

Man wird müde, manchmal von Trauer überwältigt, den Katalog der Schande täglich ergänzen zu müssen – und doch: Man darf das Feuer seiner Wut nicht zum Erlöschen bringen lassen. Das gehört zur List sozialer Gewalt in der Geschichte.

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https://blogs.taz.de/stilbruch/2020/04/27/ein-weiterer-schlag-ins-gesicht/

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