Eine Leserin regte mich zu Überlegungen auf die Frage an, warum und wie ich dazu gekommen bin, so „radikal“ über das mothering zu schreiben. Darin steckt auch die Frage, wie Menschen, die schon im mothering sind, auf meine Texte reagieren, ob sie den Inhalten zustimmen oder ob sie das als weit hergeholt empfinden.
Ich finde diese Frage und die Überlegungen dazu äußerst spannend und wichtig, weil genau DAS ein Kern des Problems mit dem mothering ist: wenn du für dich erkennst, dass dir diese Rolle so gar nicht liegt, ist es meistens schon zu spät und du kommst über Jahre (!) nicht mehr da raus.
Da hilft im Vorfeld alles Babysitten und Betrachten von Verwandten und Freund*innen mit Kindern wenig, denn dieses Thema unterliegt immer noch einem gesellschaftlichen Tabu. Und mit gesellschaftlichen Tabus ist es erstmal so, dass nicht offen über sie, über ihre Auswirkungen, die Gefühlslage der Betroffenen, die empfundenen Verletzungen und Ungerechtigkeiten gesprochen werden darf oder wenn, dann nur in „dubios“ feministischen Kreisen. Schriftliche Publikationen finden sich zunächst nur in kleinen, eher unbekannten Verlagen und Buchläden. Du triffst stattdessen häufiger auf die vielen rosaroten Brillen, die vielen Mythen und Versprechungen, auf ein dir „unbekanntes Glück“. Und wer will denn nicht alles tun, das „versprochene“ Glück zu erreichen?!
Alle Bubbles, die es irgendwann über ein Tabu hinweg geschafft haben, können über einen leidvollen Weg berichten.
Mein Problem mit der individuellen, der scheinbar subjektiven Erfahrung mit diesem Tabu
Wer erinnert sich noch an #regrettingmotherhood?!
Ich war damals ziemlich begeistert davon, dass dieses Tabu, das so verdammt viele Menschen betrifft, endlich mal angesprochen wurde und ich dachte: Jetzt ist es in der Gesellschaft.
Aber das war es dann irgendwie doch nicht, sondern versank wieder im globalen Netz und blieb in seiner Nische. Es hat ein paar mehr Menschen erreicht, aber mich selbst hat es auch nicht davor bewahrt, muss ich leider zugeben. Denn auch ich bin der gesellschaftlichen Lüge aufgesessen, dass es bei mir ganz anders laufen würde und die in dem Hashtag beschriebenen Erfahrungen rein individuelle wären, weil ich ja so viel verstanden hätte.
Ich habe, wie viele andere Menschen auch, erstmal selbst die Erfahrung im mothering machen müssen, war davon dann erstmal jahrelang so eingenommen, dass ich gar nicht mehr auf eine Meta-Ebene gekommen bin; das berüchtigte Rauschen. Ich konnte gar nicht mehr wirklich denken, geschweige denn, mich selbst fühlen. Erst irgendwann habe ich dann erkannt oder vielmehr akzeptiert, dass ein Individuum doch nichts verändern kann, wenn es in diese Falle der strukturellen Machtverhältnisse getappt ist.
Bzw suche ich noch immer nach meinem individuellen Ausgang aus diesem Labyrinth…
Die Wahrnehmung für ein Problem entsteht nicht durch nur eine Perspektive
Seit der Verbreitung individueller Perspektiven auf diversen social media Kanälen, sehe ich mehr Menschen, die sich öffentlich negativ über die Rolle des mothering äußern. Vielleicht ist doch was von regrettingmotherhood hängengeblieben.
Das Problem bei diesen Formaten ist allerdings weiterhin, wie wahrscheinlich auch bei meinem Blog, dass sie immer individuell, immer scheinbar subjektiv daherkommen und wahrgenommen werden. Es schleicht sich die Frage ein: Würde das Ganze für mich denn genauso aussehen? Kann ich das nicht anders machen? Oder empfinde ich die Situation im mothering vielleicht sogar ganz anders?
Und genau diese Fragen sind der Grund, weshalb ich immer wieder über das mothering geschrieben habe und weiter schreibe: denn wahrscheinlich ist das nicht!
Selbst wenn es sich für einige Jahre ganz gut anfühlt und gut eingerichtet scheint, die Lebenszeit des mothering ist so verdammt lang, dass aus meiner Perspektive jede irgendwann daran verzweifelt; mal mehr, mal weniger sichtbar.
Das Problem liegt nicht in einer gesellschaftlichen Schicht oder der Sozialisation einer bestimmten Generation oder einer individuellen Lebensgeschichte oder oder…
Nein, das Problem gibt es schon seit langem – seit den ersten frühen feministischen Äußerungen wird es immer mal wieder auch thematisiert – und mit der zunehmenden Entwicklung unserer westeuropäischen Gesellschaft, aber besonders der in Deutschland, ist es immer größer und vor allem immer perfider für das Individuum geworden.
Diese Erkenntnis hat mich auch ein Stückweit „gerettet“ aus meinem individuellen Leid, dem Schuld- und Schamempfinden.
Außerdem gerettet haben mich die mothernden Menschen in meinem Umfeld, die Ihre Erfahrungen, Ihr Erleben des mothering vielfältig und offen mit mir geteilt haben.
So viel gesellschaftliche Schuld kannst du gar nicht allein ertragen, weshalb ich diesen Artikel den Menschen widmen möchte, die mir neben der Auseinandersetzung mit dem mothering auf politischer Ebene die Möglichkeit gegeben haben, mein individuelles Empfinden auch persönlich zu teilen.
Mit selbst nur einem Kind hätte ich die Erfahrungen einer Alleinerziehenden mit drei und vier Kindern über 16 und 25 Jahre, die Erfahrung mit gleichzeitig großen und kleinen Kindern, die Erfahrung mit unterschiedlichen Vätern, die ländliche und die städtische Perspektive, die im bürgerlichen Eigenheim und die in Wohnprojekten usw. nicht so einfach nachvollziehen können. Die Perspektiven, die mir deren Geschichten schenkten und immer noch schenken, machten es mir zum Beispiel möglich, auch über die Generationen hinaus und über die Zukunft der „erwachsenen Kinder“ zu schreiben. (Siehe mehr dazu: mothering von Gen Z – Hängend auf Mamas Sofa)
An dieser Stelle mein, wenn auch anonymer, aber nicht weniger überschwänglich herzlicher Dank an Euch, Ihr tollen Muddis! Euch widme ich diesen Beitrag mit dieser Überschrift, denn Ihr seid meine:
Alltagsheldinnen!!!
Denn Ihr seid Heldinnen, auch wenn das nie irgendwo erwähnt werden wird, sondern Euer Beitrag aus Eurer Lebensenergie für die Gesellschaft immer als selbstverständlich angenommen wurde und weiterhin werden wird und Ihr euch dafür niemals ein Haus kaufen könnt oder eine ausreichende Rente bekommen werdet.
Leider ganz im Gegenteil…
Eine umfassende Darstellung des „Problems“ mit dem mothering in unserer Gesellschaft findest du in meinen weiteren Blog-Texten u.a. in: Liebesbeziehung • Familie I – Sozialisierte Illusionen, Liebesbeziehung • Familie II – Das richtige Leben im Falschen, Liebesbeziehung • Familie III – Mothering in Kri(eg)sen)
Wie Menschen auf meine Texte reagieren
Zurück zu der Frage, wie andere Menschen (weiblich und männlich sozialisierte) im mothering auf meine Themen und Texte reagieren: Wenn sie sich in ihrem Alltagsstress die Zeit nehmen können, dann reagieren sie mit einer persönlichen Perspektive. Sie „trauen“ sich, sich mitzuteilen: Erlebnisse, Erfahrungen, Eindrücke aus lange vergrabener, sicherlich manchmal auch schmerzhafter Vergangenheit ihres motherings hochzukramen und zu erzählen.
Ich schreibe „trauen“, weil dies letztendlich eine Unterstellung meinerseits ist. Ich glaube, sie empfinden es nicht als trauen, sondern eher als überhaupt einen Raum, der dafür offen und interessiert ist und der durch meine politische Perspektive, meine „Radikalität“ dabei, auch ihnen eine Entlastung von ihrem Schuld- und Schamempfinden bietet.
Ich habe wahrgenommen, dass sie sich durch meine kritische Perspektive auch manchmal ermutigt fühlen, dieses ihnen eigentlich wichtige Thema in ihren eigenen Freundes- und Beziehungskreisen zu verbreiten und die Rolle im mothering entsprechend offen anzusprechen.
Der Grund für meine Verwendung des Wortes trauen liegt übrigens nicht darin, dass ich ihnen unterstelle, dass sie nicht mutig wären oder sich gar nicht zum mothering äußern würden, sondern darin, dass sie durch die Radikalität meiner Texten und in meiner Person offenbar einen Menschen wahrnehmen, die sie nicht bewertet darin, als was für eine Mutter/Vater sie sich durch ihre individuellen Erzählungen zeigen. Sie müssen nicht mit einer Abwertung ihrer Person rechnen, wenn sie sich und ihre Perspektive auf das mothering offen mitteilen, was ansonsten aber oft die gewohnte Regel ist. (Für weiblich sozialisierte Menschen siehe dazu auch: Tochter • Frau • Witwe • Mutter – Die Komplizin)
Dies sind übrigens die Gründe hinter dem Tabu, weshalb du als (noch-nicht Eingeweihte) Babysitterin und von deinen Freund*innen und Verwandten, ja wahrscheinlich sogar von deiner eigenen Mutter, ihre Wahrheit über das Erleben dieser Rolle nicht offen hören wirst.
Aber wenn du ganz genau darauf achtest, kannst es aus ihren Witzen, ihrem verlegenen Lächeln, ihrem Sarkasmus bei einer kuriosen Geschichte über ihr mothering vielleicht raushören…
Und du kannst es sehen: an Ihrer alles meisternden Stärke, an Ihrer scheinbar unerschöpflichen Energie, an Ihrer wahnsinnigen Flexibilität, an Ihrer sich-selbst-vergessenden Unterstützungsbereitschaft, an Ihrer göttingleichen Fähigkeit, immer wieder über sich selbst hinauszuwachsen! Das Wesen von SuperheldInnen eben.
Ich danke Euch von Herzen für Eure Bereitschaft und Energie mit mir zu netzwerken, denn, und das geht an die eingeweihten Menschen im mothering, aus meiner persönlichen Erfahrung ist Netzwerken das Einzige, das dir raushelfen kann aus deinem individuell empfundenen Leid.
Meine persönliche Literaturliste
Da deine Wahrnehmung – wegen dem Problem der scheinbaren rein individuellen Erfahrung – wahrscheinlich nicht nur durch meinen Blog erweitert werden kann, hänge ich mal meine Liste wirklich guter Bücher an.
Für weibliche Menschen im mothering möchte ich das kürzlich erschienene Buch „Mütter. Macht. Politik.“ von Sarah Zöllner und Aura-Shirin Riedel empfehlen. Denn es ist weniger ein Aufruf – neben der sowieso schon zeitlich überfordernden Carearbeit – auch noch Politik zu machen, als vielmehr eine unterstützende Darstellung, wie wichtig, sinnvoll und notwendig Netzwerke für Menschen im mothering sind. Und es werden tatsächlich auch konkrete Netzwerke aufgeführt.
Romane
– Drastische Darstellung der weiblichen Rolle als Mutter in einer mitreißenden Story: Die Wut die bleibt, Mareike Fallwickl
– Mein erster Einblick in eine kritische Darstellung des ach so schönen Muttermythos über die Säuglingszeit: Stillleben, Antonia Baum
– Wie moderner Hedonismus und mothering sich widersprechen, besonders Nachtaktiven zu empfehlen: Momrave, Liza von Flodder
– Wunderschön beschriebene Episoden über die Absurdität von individuellen Erfahrungen und politischer Realität: Lektionen in Dunkler Materie, Ursula Knoll
– Raus aus Deutschland und rein in weibliche sozialisierte Generationen: Mädchen, Frau etc., Bernardine Evaristo
– Macht und Ohnmacht weiblicher Menschen in anderen kulturellen Kontexten: Die erste Frau, Jennifer Nansubuga Makumbi
– Utopische Geschichte über eine Politik, die mal schön wäre: Die Republick der Frauen, Gioconda Belli
– Krasse Geschichte über den Weg einer Mutter zu ihrer sexuellen Selbstdefinition in Frankreich, was sie gesellschaftlich eigentlich nicht darf: Love me tender, Constance Debré
– Skurile Geschichte: The school for good mothers, Jessamine Chan
Comics
– Ein anderer Blick, Emma
– Unerschrocken, Pénélope Bagieu
Sachbücher
– Mütter. Macht. Politik., Sarah Zöllner & Aura-Shirin Riedel: endlich mal ein Versuch einer gesellschaftlichen Wahrnehmung und durch Netzwerken auch einer tatsächlichen Unterstützung
– Aufstand aus der Küche, Silvia Federici: sehr anspruchsvoll geschrieben, basierend auf philosophischen Gedanken von Hegel
– Ein Zimmer für sich allein, Virginia Woolf: Grundlektüre, um das Problem der patriarchalen Komplizin in und neben uns zu erfassen
– Freiheit ist der Anfang, Virginia Woolf: ebda
– Links leben mit Kindern, Almut Birken & Nicole Eschen: Sammlung linker alternativer Elternkonzepte; gute Ideen, aber langfristig bin ich skeptisch…
– The Mamas and the Papas, Annika Mecklenbrauck, Lukas Böckmann: alternative Elternkonzepte und weitere (politische) Konflikte des mothering, wie zB Feminismus vs Adultismus
– Kinder bekommen, Tekla Reimers: über biologische Grundlagen der Fortpflanzung und die fälschlich daraus begründete Ausbeutung weiblicher Menschen
– Die falsche Wahl, Esther Göbel: mehr zum Hashtag regrettingmotherhood
– Vorsicht Kind, Barbara Sichtermann: feministische Erkenntnisse einer vergangenen Frauenbewegung
– Schwarzer Feminismus, Natasha A. Kelly: um mal über den Tellerrand des weißen Feminismus zu schauen, da gibt es nämlich noch viel mehr Verbündete, die es zu verstehen gilt
Podcast für und von Alleinerziehenden
– https://www.podcastfabrik.de/podcasts/ae-team/
Ich freue mich sehr, wenn diese Liste durch Eure Kommentare ergänzt werden mag!
Danke!!! Danke, dass du so krass bist. Danke, dass du deine Wahrheit mit uns teilst, danke, dass ich dich kennengelernt habe!