vonChristian Ihle 02.01.2023

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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1. The Worst Person in the World (Regie: Joachim Trier)

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Obwohl “The Worst Person in the World” auf dem Papier nach der Definition von First World Problems klingt (norwegische junge Dame aus wohlsituiertem Mittelstand kann sich nicht entscheiden, ob sie Ärztin oder Künstlerin werden will und mit welchem Mann sie ihr Leben verbringen möchte), gelingt Joachim Trier ein berührender und mitreissender Film über die Frage nach den nie gelebten Leben, nach dem Ankommen und der dafür notwendigen Reise. Wie schon in seinen Meisterwerken “Oslo, 31. August” (Filme des Jahres #2, 2013) und “Auf Anfang” (#3, 2007) fängt Trier erneut das Gefühl seiner Generation punktgenau ein.

2. The Batman (Regie: Matt Reeves)

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Matt Reeves’ Version des schwarzgekleideten Rächers ist wie ein von David Fincher inszenierter Film Noir: ein Detektivroman über eine allumfassende Verschwörung, gefilmt in der ewigen, regnerischen Nacht von “Sieben”, beschäftigt mit der Aktenwühlerei von “Zodiac”. Dieser dreistündige Ritt durch Gotham City ist eine der allerbesten Comic-Verfilmungen überhaupt, ein dringend nötiger Kontrapunkt zur derzeitigen Blockbusterwelt und vor allem ein Film, für all jene, die vor Superheldenmovies jeder Couleur sonst schreiend reißaus nehmen.

3. Everything Everywhere All at Once (Regie: Daniel Scheinert & Daniel Kwan)

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“Everything Everywhere All at Once” ist der originellste Film seit langer Zeit. Ein Feuerwerk an Ideen, ein Metaverse an Möglichkeiten. Dass gegen Ende vielleicht etwas arg die Kernfamilie als Lösung jedes Problem in jedem Universum jederzeit postuliert wird und ich nicht ganz den emotionalen Weg mitgehen konnte wie offensichtlich die meisten Zuschauer?
Geschenkt, weil einfach so viel passiert und Kwan/Scheinert hier ein nie endendes Füllhorn an Ideen über den Zuschauer gießen, wie man es lange nicht mehr im Kino gesehen hat.

4. Annette (Regie: Leos Carax) Amazon Prime

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Von seiner – wirklich bemerkenswerten – ersten Szene an ist Carax’ Weirdo-Musical eine mitreissende und im Grunde völlig deprimierende Fahrt durch ein egomanes Leben, ein Rausch des Narzismuss, eine Hymne der Selbstzerstörung. “Annette” ist fürchterlich lang (139 Minuten), oft unerträglich nervig und auch musikalisch trotz Sparks’schen Kompositionen kein Pop-Feuerwerk. Aber “Annette” ist auch berührend und hinterfragend, beschwingt und wild – und vor allem in seiner Konsequenz des Niedergangs beeindruckend.
* Kinostart: 16.12.2021

5. The Stranger (Regie: Thomas M. Wright) // Netflix

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Ein brodelnder Undercover-Thriller, der in seiner allumfassenden Düsternis als Drama spielt, das ohne jede Actionsequenz eine nervenschretternde Spannung ausstrahlt.

6. Rimini (Regie: Ulrich Seidl)

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Seidl erzählt die Geschichte des alternden Schlagersängers Ritchie Bravo (stark: Michael Thomas), der mit wohlgenährtem Körper und blondiertem, lockigen Haar wie die österreichische Palatschinken-Version von Mickey Rourkes „The Wrestler“ wirkt.
Die Geschichte des Ritchie Bravo endet allerdings weder in Erlösung noch Verdammnis, sondern mit einem Schulterzucken.
Aber immerhin: das Hemd ist wieder offen, der Tschick fest im Mundwinkel.
Irgendwie macht er schon weiter, der Ritchie.
Muss ja.

7. Axiom (Regie: Jöns Jönsson)

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Ein faszinierender Film über einen notorischen Lügenbold im Kleid eines typisch deutschen “End20er auf der Suche nach sich selbst”-Genrebeitrags.
“Axiom” ist spannend inszeniert, denn ständig könnte die eine oder andere Lüge aufgedeckt werden und das Kartenhaus eines falschen Lebens in sich zusammenbrechen. Dass dieser aalglatte, krankhafte Lügner im Zentrum der Geschichte nicht eine reine Hassfigur für den Zuschauer wird, sondern man kaum anders kann, als doch mitzufiebern, ist ein großes Verdienst von sowohl Moritz von Treuenfels in der Hauptrolle als auch der Regie von Jöns Jönsson, der all die Volten nachvollziehbar in seinen Film baut und so trotz dieser reinen Vorspiegelung auf der Oberfläche einen echten emotionalen Kern schafft.

8. Vortex (Regie: Gaspar Noe) // Mubi

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Kein Gaspar Noe – Film ohne Härte, aber “Vortex” überrascht doch sehr, welche Härte Noe hier sucht. Es sind keine flirrenden Drogenexperimente, keine sexuellen Abgründe, keine mit Feuerlöscher zermalmten Gesichter, die “Vortex” zeigt, sondern ein Leben in und mit Demenz. Ein reifes, herzzerreißendes Werk, das sich unheimlich viel Zeit lässt, das Leben seiner beiden Rentner (Dario Argento (!) & Françoise Lebrun) zu zeigen. Selten wurde das Verblassen von Leben so schonungslos im Film eingefangen.

9. Ambulance (Regie: Michael Bay)

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“Ambulance” ist pures Adrenalin-Kino, so dermaßen out of bounds und trotzdem noch nicht ganz auf der Comic-Seite, dass ich mitgerissen war wie lang nicht mehr bei einem Actionfilm. Natürlich könnt ich auch mäkeln, dass der Banküberfall beispielsweise mal wieder “Heat” in nicht ganz so gut ist, oder das Ende in Michael Bays typischen Pathos versinkt und dass er mir seine neu entdeckte Liebe zur Dronen-Kamera vielleicht etwas zu arg auslebt, aber, hey, andererseits: ein wilder Ritt wie es ihn lange nicht mehr im Kino gab.
Und genau da sollte man dieses Feuerwerk aus Knarren, Kameraflügen und Karambolagen auch sehen.

10. EO (Regie: Jerzy Skolimowski)

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Ein Road-Movie der Niederschläge: Von feierlichen Scheuneneröffnungen mit Blaskapellmusik und Bier zu wilden Fußball-Hool-Schlägereien, von Tierschützern zu Tierquälern, von Arm zu Reich wandert der Esel EO auf seinem großen Weg. Die Menschen, denen EO auf seiner Reise begegnet, nehmen wir flüchtig wahr und gewinnen einen kurzen Einblick in ihr Schicksal, das zumeist nicht mehr Freude verspricht als das des von A nach B und C geschubsten Esels.

11 Hunter Hunter

“Hunter Hunter” beginnt als herkömmlicher Mensch-gegen-Natur-Film, entwickelt sich aber stetig zu einer Mensch-ist-dem-Menschen-ein-Wolf-Demonstration, die dank des Uhrwerk-Drehbuchs und des starken Sounddesigns mit jeder Minute mehr überzeugt bis… ja bis das Ende einschlägt, das so viel extremer ist als alles, was man erwartet hätte.

12 Athena // Netflix

Eine brutalistische Banlieue, ein Molotow-Cocktail fliegt und los geht ein Straßenkampf, wie ihn das Kino noch nicht gesehen hat. Was Romain Gavras mit seiner ersten Long-Take-Szene hier inszeniert, ist so mitreissend wild, verstörend, hart und zugleich die Eskalation feiernd, dass es dich in den Kinosessel drückt und du doch auf die Straße willst, mitkämpfen, welche Seite ist egal.

13 Im Westen nichts Neues // Netflix

Ein wenig leidet “Im Westen nichts neues” darunter, dass Sam Mendes mit “1917” den Ersten Weltkrieg gerade schon erzählt hatte und dafür erstaunliche, zum Teil sogar poetisch-dystopische Bilder gefunden hat. Andererseits wäre “Im Westen nichts neues” ganz sicher der letzte Film, der “poetische” Bilder benötigt, denn Schlamm, Dreck, Blut und Gedärm stehen hier an der Tagesodnung und Ed Berger bemüht sich redlich, seinem Film alles Kriegsheroische auszutreiben.

14 The Rescue // Disney

“The Rescue”, die Doku über die Rettungsversuche der in einer thailändischen Unterwasserhöhle eingeschlossenen Jugendfußballmannschaft, hat mich im Laufe ihrer Spielzeit weit mehr mitgenommen als ich gedacht hätte.
Mit grobem Vorwissen bewaffnet dachte ich noch in der ersten halben Stunde, dass “The Rescue” eine recht betuliche Nacherzählung ist, aber wie abwegig die Rettungsversuche mit der Zeit wurden, würde man keinem Spielfilm diesseits von Roland Emmerich abnehmen. Sehr spannend, irre beeindruckend und am Ende dann emotional ergreifend.

15 Licorice Pizza

“Licorice Pizza” ist wirklich meisterhaft gefilmt und gelingt ein Zeitkolorit der 70er, das gelebt und nicht imitiert wirkt. Auch Alana Haim und (Philip Seymour – Sohn) Cooper Hoffman spielen wunderbar naturalistisch, so dass “Licorice Pizza” wie ein echter Ausschnitt aus dem Leben zweier junger Leute im Los Angeles der 70er wirkt.
Und wie jung sie sind, sieht man daran, wieviel in diesem Film ständig GERANNT wird!
Der Überschwang der Jugend, nie kann geschlendert oder flaniert werden, immer Beine in die Hand und los auf ins nächste Abenteuer, schnell!

16 Moonfall

In den über 5.000 Filmen, die ich bisher in meinem Leben gesehen habe, wurde keine so behämmerte und absurde Story mit vollster Konsequenz durchgezogen wie in Roland Emmerichs “Moonfall”. Ich ziehe den Hut davor, die Ausgangsprämisse “Mond fällt auf Erde” minütlich noch durchgeknallter werden zu lassen.

17 Working Class Heroes

Gut beobachtetes Drama mit Ken-Loach-Attitude um unwürdige Arbeitsbedingungen und “jeder ist sich selbst der Nächste”-Mentalität in Serbien. Gegen Ende wird “Working Class Heroes” zunächst sehr bitter, dann krass und endet auf einer, nun ja, “versöhnlichen Note” kann man wirklich nicht sagen, aber zumindest auf einem Moment des verzweifelten Zurückschlagens – und zwar mit einem großen Bang.

18 Alle reden übers Wetter

“Alle reden übers Wetter” ist genau beobachtet und toll geschrieben, so dass Annika Pinske ein richtig unterhaltsamer Film gelingt, der zudem dank seiner Kontrastierung des intellektuellen Berlin-Umfeld mit der Uckermark-Herkunft seiner Protagonistin ein Spannungsfeld aufbaut, das sich dennoch nicht in den erwartbaren Klischees verliert.

19 Sonne

Coming Of Age mit maximalem Ösi-Schmäh. Ur-Modern, wie ein 80-minütiges Insta-Reel mit Hasenohrfiltern! “Sonne” ist herrlich real und direkt. Das von Ulrich Seidl produzierte Debüt von Kurdwin Ayub (die damit den Preis für den besten Erstlingsfilm auf der Berlinale gewinnen konnte) ist wie eine junge, wilde Variante einer Seidl-Dokumentation und geht komplett rein ins echte Leben.

20 Triangle of Sadness

Subtilität war noch nie Ruben Östlunds Stärke und in “Triangle Of Sadness” geht er erst recht den offensichtlichsten Weg. Seine Kritik am exzessiven Leben der Überreichen erinnert mich an Bart Simpsons altes Diktum “making teenagers depressed is like shooting fish in a barrel”. Ähnliches gilt auch hier: die Inszenierung des Überfluß der verwöhnten Oberschicht auf einer Luxusyacht ist nun nichts, was man nicht eh schon gedacht hatte. Aber über drei erstaunlich kurzweilige Stunden auch sehr unterhaltsam.

21 The Northman

Für Robert Eggers ist selbst ein manchmal mäanderndes, schmerzhaft originalgetreues Wikinger-Epos ein Schritt in Richtung Mainstream und sicherlich sein bisher zugänglichster Film. Die Einstellungen sind wuchtig, die Performances männlich, das Geknurre rauh, das Geschreie hysterisch. Die Geschichte selbst ist dünn, aber oft mit visueller Überwältigung umgesetzt. In seinen besten Momenten ein mitreissender Mittelalter-Film, dem man dadurch auch verzeiht, dass er im Grunde nicht wirklich etwas zu erzählen hat.

22 Navalny // RTL+

Die großen Stärken der Dokumentation über den russischen Oppositionspolitiker Alexey Nawalny ist die krasse Offenheit: als Nawalny nach einem Giftanschlag in Deutschland behandelt wird und seine Rekonvaleszenz in einem bayerischen Dorf absolviert, klammert sich Daniel Roher an seine Fußstapfen und bekommt Einblicke, für die “fly on the wall” noch untertrieben wäre. Die mitgefilmte Enttarnung der Verantworlichkeit für den Giftanschlag auf Nawalny dürfte einer der irrsten in der Geschichte von Polit-Dokumentationen sein: live beim Spion-Enttarnen dabei!

23 Klondike

Maryna Er Gorbach filmt ihre Geschichte über die russische Invasion im Donbass in langen Einstellungen wie in Tarkovskys legendärem Schlußbild von “Offret”. Dieser Kniff verkommt aber nie zum Gimmick, sondern setzt visuell bestechend die Idee um, dass wir alle unser Leben leben, während am Horizont die Weltgeschichte passiert. Und auch wenn das Weltgeschehen zunächst klein und weit weg erscheint: irgendwann kommt es näher und ändert auch uns und alles um uns herum.

24 The Lost Daughter // Netflix

Ein starker Film, dessen passiv-aggressive Grundstimmung gut eine Atmosphäre der Lebenslügen und des Bereuens von Entscheidungen einfängt und mich an das frühe Werk von Joanna Hogg (“Unrelated”) erinnert.

25 X

Vielleicht hat Ti Wests Horrorporn nicht ganz die nachhallende Wirkung seines “House Of The Devil” von 2009, weil er hier früher in media res geht und die Messer in die Körper steckt, aber dennoch ist “X” einer der besten Horrorfilme des Jahres.

26 The Shadow in My Eye // Netflix

Bereits in der eindrücklich gefilmten und wirklich tragischen ersten Szene spiegelt Regisseur Ole Bronedal geschickt den späteren Verlauf, was uns Zuschauern aber erst nach und nach klar wird.

27 The Wonder // Netflix

Ein starker Film von Sebastián Lelio (“Gloria”), der auch hier wieder eine sture, stolze Frau in sein Zentrum stellt. In “The Wonder” spielt Florence Pugh eine Krankenschwester, die sich weder den Autoritäten noch der Religion beugen will und mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht.

28 Jackass Forever

Auch 25 Jahre später funktioniert das Jackass-Prinzip immer noch genauso gut. Stunts, die in ihren besten Momenten auf spielerische Weise die Absurdität der Welt aufzeigen (und in ihren schwächeren halt einfach auf die Eier hauen).

29 Apollo 10½: A Space Age Childhood // Netflix

Linklater kommt in seinem geliebten Rotoskopie-Verfahren voll zu sich, wenn er aus dem Off (Jack Black, einigermaßen zurückhaltend) die aufregenden 60er aus Heranwachsenden-Perspektive kommentieren lässt. All die verrückte Popkultur & wilde Zukunftshoffnung bei gleichzeitiger Angst vor atomarer Auslöschung, durchlebt in einem Vorort von Houston während nebenan die NASA zum ersten Mondflug ansetzt!

30 A Chiara // Mubi

In seinem schroff-realistischen Stil reiht sich Jonas Carpignanos Ndrangheta-Film in die Riege der nüchternen Mafia-Filme aus den letzten Jahren ein. Die Stärke von “Chiara” liegt – abgesehen von der beeindruckenden Performance der Laiendarstellerin Swamy Rotolo in der Hauptrolle – in der Konzentration auf das Erleben dieser zentralen Figur: eines 15jährigen Mädchens.

31 The Card Counter // Amazon Prime

Paul Schrader in seinem Element: “The Card Counter” ist das Portrait eines einsamen, getriebenen Hundes. “The Card Counter” ist immer dann am besten, wenn er sich auf den von Oscar Isaacs gespielten Charakter konzentriert und dessen verstörender Innenwelt Bilder schenkt.

32 Taurus

“Taurus” erzählt einige Nächte im Leben des fiktiven Rappers Cole (dargestellt vom, trotz Namen, echten Rapper Machine Gun Kelly) und seinen Hang, besser: Drang, zur Selbstzerstörung.

33 Una Femmina: The Code of Silence

Francesco Costabiles Film über die kalabresische Mafia, also die ‘Ndrangheta, steht hinsichtlich der Ärmlichkeit und Hässlichkeit der Umstände ganz in der Tradition von Matteo Garrones “Gomorrha”. Man fragt sich schon manchmal: wozu der ganze Waffenschmuggel und die Morde, wenn dann doch wie der Schweinehirt gehaust wird? Sind die alle nicht in it for the money, sondern einfach weil sie den Job so lieben?

34 Girl Picture

Fresher Coming Of Age – Film um drei Girls, die alle nach etwas anderem in ihrem Leben suchen: den ersten Orgasmus, eine Bindung zur Mutter oder eben eine Teilnahme an der Eiskunstlaufeuropameisterschaft. “Girl Picture” sprüht vor frechem Humor und spielt mit größter Selbstverständlichkeit die sexuelle Selbstbestimmung von jungen Mädels aus. Der finnische Teenager-Film lacht immer mit seinen Girls über ihre Missgeschicke und nie über sie.

35 Beautiful Beings

Aufwachsen in Island scheint härter zu sein als gedacht: jeder der 14jährigen in “Beautiful Beings” ist kaputt as fuck, nur die eigenen Eltern sind noch näher am Abgrund als die Jugendlichen selbst. Keine Szene ohne Zig, kein Gespräch ohne Bier und kein Abendessen ohne Faustsalat.

36 The King’s Man // Disney+

Ich habe durchaus ein Faible für alternative Weltenerzählungen und deshalb wirkt diese Origin-Story von “The King’s Man” für mich womöglich stärker als für andere. Aber die Zeitenwende des ersten Weltkriegs herzunehmen und daraus eine faszinierende, aber auch behämmerte andere Historie zu konstruieren, kann man eben entweder obszön oder eskapistisch empfinden.

37 Incredible But True

Quentin Dupieuxs neueste Geschichte aus Absurdistan profitiert davon, dass Mr Oizo nicht mehr jede Szene zu völligem Quatsch aufblasen muss, sondern nur zwei verrückte Elemente nimmt und den Rest des Films straight spielt.

38 Top Gun: Maverick

Kompetent gemachter, heftiger Action-Kitsch.

39 Nope

Ganz so mitreissend wie zwischendurch erhofft erweist sich “Nope” letztlich zwar leider nicht, weil Jordan Peele (“Get Out”) sich nie ganz zwischen Sci-Fi-Horror und -Komödie entscheiden kann, aber der Flug ins Unbekannte unterhält durchaus gut, lässt den Zuschauer nur letztlich achselnzuckend zurück.

40 Drive My Car // mubi

Slow Cinema in Reinkultur: drei Stunden, die zum Großteil entweder quatschend in einem Auto verbracht werden oder bei einer Probe zu Chekhovs “Onkel Wanja”.

41 The Line

Ursula Meier bleibt auch in ihrem neuen Film ihrem Lieblingsthema “dysfunktionale Familie” treu, erdet die Geschichte aber deutlich mehr als damals im lecht surrealistischen “Home”.

42 Grand Jeté

“Grand Jeté” erklärt nicht viel, sondern zeigt lieber und ist dabei sowohl explizit als auch dem Ekel nicht abgewandt.
Isabelle Stever inszeniert eine sehr körperliche Inzest-Geschichte, die von erstaunlich wenig Kommentierung begleitet wird.

43 Love, Deutschmarks and Death

Nachdem sich Cem Kaya in “Remake, Remix, Rip-Off: About Copy Culture & Turkish Pop Cinema” mit dem Phänomen der türkischen B-Movies beschäftigt hatte, wendet er nun seinen poparchäologischen Blick auf die verschlungenen Wege der “Gastarbeiter-Musik”.

44 Flee

Größte Stärke von “Flee” ist, wie eindrücklich er die Logik und Notwendigkeiten der Fliehenden versteht und ausdrücken kann. Selbst ein ‘Asylbetrug’ wird so schlüssig, einfach weil das Leben keine anderen Optionen mehr zeigt. Vielleicht ein wenig zu glatt an mancher Stelle, um ganz die psychedelische Eindrücklichkeit vom technisch ähnlich angelegten “Waltz With Bashir” zu erreichen, aber ein beeindruckender und erschütternder Film.

45 Both Sides of the Blade

Viel französischer geht’s kaum: ein irre geschwätziger Film um eine Dreiecksgeschichte mit Juliette Binoche.

46 Causeway // Apple+

Ruhiges Drama um versehrte Menschen: klassisches Sundance-Material, aber dankenswerterweise ohne die sonst übliche Cuteness in diesem “Genre” (siehe “CODA” & Co). Im Grunde passiert zu wenig, um wirklich mitzureissen, aber als reines Schauspiel-Kino (Jennifer Lawrence! Aber mehr noch Brian Tyree Henry!) verstanden, ist “Causeway” durchaus sehenswert.

47 Photocopier // Netflix

Das Missbrauchsdrama “Photocopier” zeugt vor allem von einem tiefen Verständnis der modernen Welt. Die Handhabung der Technik und Gadgets ist so natürlich wie ich das selten in einem Film gesehen habe (bis hin zur realistisch gelösten Frage, wie man eine Zwei-Faktor-Authentifizierung bei Gmail überlisten könnte!), auch wenn eine Laufzeit von 130 Minuten dann sicher eine Viertelstunde mehr als unbedingt nötig ist.

48 Halloween Ends

In “Halloween Ends” steckt ein richtig guter, sogar ernsthafter Horrorfilm mit starker Charakterzeichnung, endet aber aufgrund einiger unglücklicher Drehbuchentscheidungen als leicht überdurchschnittliches Nostalgiefest – dank wenigstens stetem Entertainmentfaktor.

49 Die Zeit, die wir teilen

Isabelle Huppert glänzt wie gehabt in der Hauptrolle, Lars Eidinger ist im maximalen Lars-Eidinger-Modus als Intellektuellen-Rebell.
Ein vielschichtiger, wenn auch nicht restlos überzeugender Rückblick auf ein Leben.

50 Catherine Called Birdy // Amazon Prime

Sollte eigentlich nicht funktionieren, tut es aber doch: Lena Dunham (“Girls”) dreht ein Period Piece über eine heiratsunwillige junge Frau, die der Geldnöte des Vaters wegen an einen alten Knacker weitergereicht werden soll. Angenehmerweise wird trotz des nun wirklich sehr deutlichen Subtextes Dunhams Film aber keine Predigt der Emanzipation, sondern ist schlicht ein frecher Coming Of Age – Film, der im Mittelalter spielt.
Wie wäre es nun mit einer Jane Austen – Verfilmung, Lena?

Die Vorjahressieger:

2021: Titane (F, Regie: Julia Ducournau)

2020: Enfant Terrible (D, Regie: Oskar Roehler)

2019: Midsommar (USA, Regie: Ari Aster)

2018: Hereditary (USA, Regie: Ari Aster)

2017: RAW (F/BEL, Regie: Julia Ducournau)

2016: Green Room (USA, Regie: Jeremy Saulnier)

2015: Victoria (D, Regie: Sebastian Schipper)

2014: Boyhood (USA, Regie: Richard Linklater)

2013: Upstream Colour (USA, Regie: Shane Carruth)

2012: Drive (USA, Regie: Nicolas Winding Refn)

2011: Submarine (UK, Regie: Richard Aoyade)

2010: Bad Lieutenant: Port Of Call – New Orleans (USA, Regie: Werner Herzog)

2009: Inglorious Basterds (USA, Regie: Quentin Tarantino)

2008: No Country For Old Men (USA, Regie: Joel & Ethan Coen)

2007: Ex Drummer (Belgien, Regie: Koen Mortier)

2006: Match Point (USA, Regie: Woody Allen)

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