1 Anora (Regie: Sean Baker)
Sean Bakers Cannes-Gewinner ist ein wilder Ritt durch eine New Yorker Nacht, der das ziellose Herumstreunern von Jim Jarmusch mit der ADHS-Manie der Safdie-Brüder verheiratet.
Bakers Geschichte um eine junge Sex-Arbeiterin, die von einem russischen Oligarchen-Sohn geangelt wird, ist wild, komisch, heftig – aber auch mit einer rauhen Emotionalität, die man zunächst nicht erwarten würde. Erneut gelingt es Baker, den Abgehängten des Landes eine Stimme und eine Präsenz zu geben, und zu demonstrieren, wie Geld alles und jeden korrumpiert. Doch hebt „Anora“ nie den moralischen Zeigefinger, sondern nimmt die Tatsache des Warencharakters des modernen Lebens zunächst als gegeben hin, um die Rebellion gegen die Umstände zu zeigen – auch wenn es eben „nur“ darum geht, endlich genug Geld für ein besseres Leben zu haben. Für die Systemfrage haben seine Figuren weder die Zeit noch die Muße.
2 Verbrannte Erde (Regie: Thomas Arslan)
Thomas Arslan präsentiert eine unerwartetete Fortsetzung zu seinem toll kühlen Krimi „Im Schatten“ von 2010.
Erneut spielt Misel Maticevic Trojan, ein professioneller Kleinkrimineller. Als er mit einem neuen Team einen Bruch in einem Berliner Museum machen soll, um ein Caspar David Friedrich – Gemälde zu stehlen, läuft dank seiner Genauigkeit und Vorsicht zunächst alles rund. Doch nach der Euphorie der Arbeit steht die Brutalität des Marktes und nun muss Trojan noch das Beste aus der Situation retten – und sei es nur sein Leben.
Aslan ist eine wunderbare Heirat aus Berliner Schule – Minimalismus und Genrefilm gelungen. „Verbrannte Erde“ verliert kein Wort zu viel, lebt in erster Linie von Blicken und Nicht-Gesprächen, zeigt Berlin nur in seien unfreundlichsten, anonymsten Nicht-Orten und liefert doch gleichzeitig Spannung, Emotion und eine Analyse des Kampfes Working Class gegen Turbokapitalismus mit.
Wer je einen deutschen „Drive“ gesucht hat: bitteschön, „Verbrannte Erde“!
3 The Zone of Interest (Regie: Jonathan Glazer)
Mehr Kunstinstallation als Spielfilm und dennoch so einnehmend, dass ich über die komplette Spielzeit angespannt war.
Glazer gelingt schon etwas erstaunliches: zunächst denkt man, dass „Zone Of Interest“ im Grunde nach 20 Minuten seinen Punkt gemacht hat – das Leben der deutschen Nazis läuft im kleinbürgerlichen Sinn völlig normal ab, während hinter der Mauer das Grauen von Auschwitz regiert – und „Zone Of Interest“ hat dem nichts mehr beizufügen. Doch die Doppelung, Verdreifachung, Vervielfachung dieses einen Punktes hämmert die Alltäglichkeit eben immer stärker in den Zuschauer und stellt ihn vor die Aufgabe, sich dazu zu positionieren.
Interessant fand ich zudem das Sounddesign, das ja praktisch Hauptdarsteller ist, da allein der Ton das Grauen greifbar macht, das nie zu sehen ist. Während man zu Beginn sich selbst beim Zuschauen noch ständig aktiv mit dem Grollen der Vernichtungsmaschine konfrontiert, nimmt man später diesen Sound kaum noch wahr. Glazer spiegelt damit auf den Zuschauer zurück, wie ein Einrichten neben dem Grauen möglich wird, wie der Verdrängungsmechanismus auch in jedem von uns funktioniert.
4 The Holdovers (Regie: Alexander Payne)
They don’t make it like them anymore… „The Holdovers“ wirkt wie aus den 70ern ausgegraben, aber im besten Sinn. Eine kleine Geschichte, Hal-Ashby-Style, über das Suchen und Finden, die Verwirrung der Heranwachsenden und die Verzweiflung der Erwachsenen.
Paul Giamatti spielt brillant einen verhassten Lehrer an einem Internat, der aufgrund seiner Beharrlichkeit, auch reiche Schüler nicht zu bevorzugen, vom Direktorat die Aufsicht über die Weihnachtstage aufgebrummt bekommt. Dominic Sessa (ebenfalls toll in seiner Fänger-im-Roggen-haftigkeit!) ist der einzige Schüler, der dieses Fest mit ihm verbringen muss. Die beiden kabbeln sich, lernen aber die Verletzungen des jeweils anderen über den Verlauf der Weihnachtstage kennen, so dass „The Holdovers“ mit einem redlich verdienten tearjerker-Ende schließen kann. Doch bevor wir zu diesem ernsten Punkt gelangen, ist Alexander Paynes Film eine spritzig geschrieben Komödie, wie sie auch Aaron Sorkin nicht mit mehr intellektuellen Pointen pro Minute hätte entwerfen können.
5 Dune: Part Two (Regie: Denis Villeneuve)
Überwältigungskino der besonderen Art, denn Villeneuves zweite Erzählung zum „Dune“-Komplex kommt immer dann zu sich, wenn sie Bild wird und nicht Wort ist.
Trotz einiger Lücken und Problemchen reisst „Dune 2“ aber mehr mit als der erste Teil, der im Grunde eine einzige lange Hinführung auf die Geschehnisse dieses Sequels war und nie die Struktur einer Exposition abschütteln konnte, sondern großartige Setpieces zwischen gleichförmige Dramaturgie platzierte. „Dune 2“ dagegen steuert auf einen lange vorbereiteten Klimax zu und endet dennoch offen genug, dass ich sofort nach einem dritten Teil verlangen möchte.
6 Sterben (Regie: Matthias Glasner)
Alter, Alzheimer & Alkoholismus – dass „Sterben“ den harten Willen hat, unter anderem mit diesen funny Themen ernsthaft komisch zu sein und bei aller Komik ernsthaft zu bleiben, macht Matthias Glasners dreistündiges Familienepos zu einem beeindruckenden und alleinstehenden Werk. Verletzungen in Kindheitstagen, Vernachlässigung der Alten und der nicht zu stoppende Verfall von Allem und Jedem, das sind die zentralen Punkte Glasners in „Sterben“. Die Geschichte einer Familie.
Zugleich metadiskutiert Glasner noch Kunst und Kommerz, Ehrlichkeit und Anbiederung – sowie den schmalen Grat dazwischen, den es zu treffen gilt, will man mit hinreichender Ehrlichkeit ein ausreichendes Publikum für seine Herzens- und Geistesthemen erreichen. Gerade in der Meta-Kunst-Ebene erinnert Glasner hier (im besten Sinn) an Ruben Östlunds Satiren. In seiner gnadenlosen Zuspitzung der familiären Destruktion wiederum kann man sich hierzulande höchstens noch Oskar Roehler als vergleichbar radikalen Regisseur vorstellen, nur dass Glasner im Gegensatz zu Roehler auf trockenen Witz statt greller Überzeichnung setzt.
Ein harter Film, ein lustiger Film. Aber auch ein verstörender Film, spätestens dann, wenn in der Schlusseinblendung Glasner persönlich wird und er „Sterben“ seiner „Familie, den Lebenden und den Toten“ widmet sowie Hans-Uwe Bauer als „mein Vater“ in den Credits aufführt.
Glasner und Ari Aster („Beau is afraid“), das wäre mal eine Therapiestunde in Überlänge.
7 Furiosa: A Mad Max Saga (Regie: George Miller)
Gonzo-Action maximal.
Es ist schon Wahnsinn, wie der 79jährige „Schweinchen Babe“-Autor George Miller hier die Action-Sau durch die Wasteland-Wüste treibt! Die Setpieces, die Klamotten, die Karren, die Maskeraden – alles ist so einfallsreicher, originär wilder Dystopie-Irrsinn, wie man es seit „Frankensteins Todesrennen“ nicht mehr gesehen hat.
Dass die Geschichte – Kindheitstrauma, Rache, Gewalt – nicht viel hergibt, geschenkt. Denn obwohl „Furiosa“ sich auf einem dünnen Story-Drahtseil von Action-Set-Piece zu Action-Set-Piece hangelt, wird Millers neuester Eintrag in seinen „Mad Max“-Kanon nie repetitiv, sondern bleibt überraschend und mitreissend. Chris Hemsworth stiehlt als Dementus selbst der von Anya Taylor-Joy gespielten Furiosa jede Szene – so sehr, dass man dem anarchistischen Biker-Revolutionär mehr als einmal heimlich die Herrschaft über das wüstige Nichts in diesem Film wünscht. (Frage mich allerdings, ob Hemsworth seine Figur bewusst wie eine muskelbepackte Parodie von Russel Brand angelegt hat oder das Zufall ist. Dementus trifft Brands pseudointellektuelle, megalomanische Überheblichkeit so exakt, dass ich mich manchmal kneifen musste, um mich daran zu erinnern, dass wir hier nicht den missbrauchbeschuldigten britischen Comedian sehen.)
8 Civil War (Regie: Alex Garland) Netflix
Zum ersten Mal bewegt sich Alex Garland als Regisseur aus dem Bereich des Science-Fiction in unsere Welt, auch wenn „Civil War“ natürlich dennoch (hoffentlich!) von einer Dystopie kündet, die aber unangenehm nah erscheint.
Die Vereinigten Staaten waren die längste Zeit vereinigt: Kalifornien, Texas und Teile von Florida betreiben die Sezession, im Weißen Haus wird verzweifelt der Glaube an den Sieg über die abspalterischen Kräfte aufrecht erhalten. Das Land versinkt im Chaos, das Volk schwingt sich zum Herrscher über seinen eigenen kleinen Raum auf und beschießt / verteidigt / ergreift (wer weiß das schon?) mit Waffengewalt was aus seiner jeweils individuellen Perspektive ihm gehört.
Wir sehen diesen Trip in die Finsternis mit den Augen einer kleinen Gruppe Kriegsreporter, die sich immer weiter ins umkämpfte Gebiet bis nach Washington vorwagen und auf dem Weg den Verfall jeder Zivilisation erfahren. Apocalypse USA.
9 Strange Darling (Regie: JT Mollner)
„Strange Darling“ erzählt seine Geschichte so verdreht, dass sie mich mehrfach auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Auch einer der wirklich sehr seltenen Fälle, dass eine achronologische Erzählung nicht Selbstzweck und zwinker-zwinker ist, sondern einen ernsthaften Mehrwert für den Fortgang der Story und das Erleben des Zuschauers hat. Willa Fitzgerald in der Hauptrolle als „Lady“ ist ein Ereignis, Kyle Gallner als ihr Gegenspieler ebenfalls überzeugend. Die Farben sind satt, die Bilder stark (Schauspieler Giovanni Ribisi an der Kamera!), der Style gut. Eine wirklich mitreissende Mischung aus Horror-Film und Tarantino-Verbeugung.
10 Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (Regie: Adrian Goiginger)
Eine Beisl-Ballade um den fiktiven Troubadour Rickerl, der dem echten Wienerlied-Sänger Voodoo Jürgens nicht nur äußerlich ähnelt. Voodoo spielt praktisch sein verfremdetes Bio-Pic, was doch ein schöner Meta-Kniff für jene ist, die Hintergründe kennen, aber für Unbeleckte den Charme hat, sich ohne Vorwissen in diese Geschichte um ein Künstlerleben am Rande des Existenzminimums hineinwerfen zu können.
Dank des ewig präsenten Wiener Schmähs sind die wunderbar langsamen Unterhaltungen beim Chaoten-Manager („Reich wer ma damit ned werdn. Owa berührt hots mi, gonz tiaf drinnen“), am Würstelstand, im Arbeitsamt und natürlich am Kneipentresen herrlich unterhaltsam, wirken aber nie geschrieben, sondern immer gelebt. Über die Erzählung der Beschwerlichkeiten einer „Musikerkarriere“ von unten hinaus punktet „Rickerl“ mit einer erstaunlichen emotionalen Dichte in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Sowohl die Differenzen mit der Ex-Frau (toll: Agnes Hausmann), die sich genervt von Rickerls unstetem Kneipenleben nun mit einem deutschen Hipster-Piefke in die Vorstadt zurückgezogen hat, als auch die ständig zwischen Anhimmlung, Liebe und Vernachlässigungsfrust schwankende Beziehung zwischen Rickerl und seinem jungen Sohn sind so nachfühlbar, dass es beim Zuschauen schon schmerzt.
Ein toller, echter Film, einer der besten Musik-Spielfilme „deutscher“ Sprache der letzten Jahre.
11 La Cocina (Regie: Alonso Ruizpalacios)
Wer die zurecht gefeierte TV-Serie „The Bear“ gesehen hat, kennt die Magie der Hektik einer Profiküche: die Aufregung, den Rausch, aber auch den Anschlag auf alle Sinne, der den Zuschauer so ausgelaugt zurücklässt wie die Protagonisten auf dem Bildschirm.
Auch „La Cocina“ gelingt dieses Kunststück, reichert aber dieses Setting mit einer Erzählung über die Ausgestoßenen, Abgehängten, gerade Eingewanderten an, so dass die Großküche am Times Square zur Umsetzung des berühmten Spruchs an der New Yorker Freiheitsstatue wird: ”Give me your tired, your poor/Your huddled masses yearning to breathe free”.
In quadratischem Schwarz-Weiß-Bild, das die Enge der Küche auch visuell spürbar macht, führt Regisseur Alonso Ruizpalacios ein großes Figurenensemble ein und vermag dennoch seine einzelnen Protagonisten mit wenigen Strichen eindrucksvoll zu gestalten. Trotz seiner Länge von 140 Minuten hat „La Cocina“ die Zuschauer fest im Griff wie ein guter Chef seine Küche.
Ein richtig starker Film, dem auf kleinem Raum eine große Erzählung gelingt.
12 Kneecap (Regie: Rich Peppiatt)
Das „Trainspotting“ der Musik-Filme. Ein wunderbar wilder, poppiger, aber doch rougher Ritt durch Nordirland anhand der Entstehungsgeschichte eines (hauptsächlich) irisch rappenden Trios.
13 My Old Ass (Regie: Megan Park) Amazon Prime
Ein bemerkenswert starker Coming Of Age – Film, der mit einem Gimmick beginnt, aber in großer emotionaler Tiefe endet (und mich, Cineasten bitte nicht schlagen, in seiner weisen Betrachtung des Zusammenspiels von junger und älterer Generation sogar an Ozus „Tokyo Story“ erinnert hat). Megan Parks Coming-Of-Age-Drama ist in besten naturalistischen Indie-Arthouse-Bildern gefilmt, von Maisy Stella in der Hauptrolle bestechend glaubwürdig gespielt und hat ein hervorragendes Händchen für die manchmal irrlichternde Neugier, die 18jährige nun mal umtreibt.
14 Brief History of a Family (Regie: Jianjie Lin )
Ein Hauch von „Parasite“ durchweht den starken chinesischen Film „Brief History Of A Family“: als der junge, aus komplizierten Verhältnissen stammende Yan Shuo nach einem Unfall im Schulsport einen Nachmittag bei der wohlsituierten Familie eines Klasskameraden verbringt, verändert seine Anwesenheit die Beziehungsdynamik in der ganz nach chinesischem Staatsbefehl gestalteten Vater-Mutter-Kind-Kleinfamilie.
15 The Iron Claw (Regie: Sean Durkin)
Selbst die breitesten Schultern der Söhne können die Last, die ihre Eltern übergeben, nicht tragen. Einer der besten Sportfilme seit langer Zeit, aber im Kern vor allem das überlebensgroße bzw. tödliche Drama einer Familie.
16 Sex (Regie: Dag Johan Haugerud )
Überraschend lustige Komödie um die Verunsicherung des modernen Manns der Mittelschicht, als hätte Woody Allen mit Aki Kaurismäki ein Drehbuch über heterosexuellen Gay-Sex geschrieben.
17 A Different Man (Regie: Aaron Schimberg)
Erzählt smart in vielen Schichten vom Innen und vom Außen. „A Different Man“ ist ein mehrfach um die Ecke gedachter Film Pro Inklusion, der nicht predigen muss, weil er zeigen kann.
18 Rebel Ridge (Regie: Jeremy Saulnier) Netflix
Besonders stark ist Jeremy Saulniers Spiel mit dem „Rambo: First Blood“-Mythos zu Beginn, wenn er innerhalb von wenigen Minuten all die rassistisch grundierte Ungerechtigkeit der USA so spürbar macht, dass man als Zuschauer vor Wut schon in die Tischkante beißen möchte.
19 Des Teufels Bad (Regie: Severin Fiala, Veronika Franz)
„Des Teufels Bad“ reiht sich in die schmale Riege des neuen Folk-Horror („The VVitch“, „Hagazussa“) ein, der die „alte Zeit“ nicht als pittoresken Backdrop zu einer Hexengeschichte verwenden will, sondern tief eintaucht in die Härten des damaligen Lebens. Dennoch ist „Des Teufels Bad“ kein Folk Horror im klassischen Sinn, denn Veronika Franz & Severin Fiala bleiben ganz im Hier und Jetzt (bzw. im Dort & Damals), erklären strikt aus den Umständen und sind damit auch konsequenter als Eggers „The VVitch“. Ohne eine wirklich phänomenale Anja Plaschg (Soap&Skin) im Zentrum würde diese Erzählung kaum wirken, sie erst macht sowohl die Härte des Daseins als auch den Wahn als Lösung nachvollziehbar.
20 Konklave (Regie: Edward Berger)
Edward Berger erzählt nach einer Buchvorlage von Robert Harris die intrigenreiche Kür eines neuen Papstes im Konklave. Da werden Fallstricke gelegt und Gerüchtchen geschmort bis der weiße Rauch das Dach wegbläst. Ein herrlich übertriebenes Seemansgarn knüpft das Drehbuch, das von Berger größtenteils mit schönem Ernst bebildert wird, wenn Ralph Fiennes als einzig Aufrechter unter lauter verschlagenen Knechten Gottes stirnrunzelnd und am Glauben zweifelnd gen Himmel blickt. Dachte immer, bei der FIFA ging es wild zu, aber katholische Kirche noch mal anderes Level!
Äußerst unterhaltsamer Schmonz.
21 When Evil Lurks (Regie: Demián Rugna)
Demián Rugna gelingen in seinem Besessenheits-Horror einige wirklich bemerkenswert verstörende Szenen und an Konsequenz lässt er es auch nicht mangeln. Kommt man ´über die schwache erste halbe Stunde hinaus, wird man mit einem der besten Horrorfilme der jüngeren Vergangenheit belohnt.
22 Society of the Snow (Regie: J. A. Bayona) Netflix
Selten hat ein Survival-Drama überzeugender die Gleichzeitigkeit der Unbarmherzigkeit von Natur mit der pittoresken Schönheit in ihrer Schroffheit eingefangen.
23 Kinds of Kindness (Regie: Yorgos Lanthimos ) Disney+
Die drei abstrakten Kurzgeschichten, die Lanthimos hier erzählt, sind so wenig greifbar, dass ich außer einem Gefühl für die Kaputtheit der Welt und einem ewigen Tauziehen zwischen Dominanz und Submission nicht einmal sagen könnte, worum es hier eigentlich geht. Kein Spaß, aber was ist schon wirklich ein Spaß im Stahlbad der Welt.
24 Cuckoo (Regie: Tilman Singer)
Ein wenig Lynch & Argento, ordentlich Cronenberg (David UND Brandon) sowie viel originäre Weirdness bringt Tilman Singer in seinen Horrormysteryfilm „Cuckoo“ ein.
25 Dream Scenario (Regie: Kristoffer Borgli)
Fast nicht zu glauben, dass Charlie Kaufman mit „Dream Scenario“ nichts zu tun hatte! Die Geschichte um einen sehr durchschnittlichen, in seinen Unsicherheiten auch recht anstrengenden Uni-Professor, der auf einmal grundlos in aller Leute Träume auftaucht, ist so absurd, multilayered und damit kaufmannesque, dass sie vom Meister selbst stammen könnte.
26 Love Lies Bleeding (Regie: Rose Glass )
Eine wilde Freakshow als Modern Noir mit Kristen Stewart in ihrem Zentrum, eine junge Schwester zu Lynchs Pulp-Höhepunkt “Wild At Heart”.
27 The Apprentice
Ali Abbasi gelingt in seinem Trump-Film die schwierige Historisierung einer die Jetzt-Zeit bestimmenden Figur. Sein „The Apprentice“ fühlt sich aufrichtig, echt an. Was bei einem Sujet wie Donald Trump nun wirklich keine kleine Leistung ist.
28 May December
Ein erfreulich luftiges Melodram gerade wegen der Soap-Opera-Surface, aber doch in der Tiefe nachwirkend aufgrund seiner philosophischen Substanz.
29 Speak No Evil
Das internationale Remake des dänischen Originals ist ein starker Thriller, der vor allem in seinen ersten zwei Dritteln ein arges Gefühl der social awkwardness transportiert und hier schon so unangenehm sitzt, wie es keine fünf heraushängenden Augäpfel es könnten. (falls heraushängende Augäpfel überhaupt sitzen können, aber ihr wisst ja was ich meine)
30 Late Night with the Devil
Im Herzen ist „Late Night With The Devil“ ein Film über den faustischen Pakt der Entertainment-Industrie mit den Niederungen der menschlichen Sensationslust und buchstabiert diese Idee schön passend als Horrorfilm aus. Gelungen!
31 Mars Express Amazon
Toller französischer Anime, der eine Zukunftswelt mit denkenden, lebenden Robotern entwirft und glaubwürdig umsetzt. Das Worldbuilding ist überzeugend, die Film Noir-ige Geschichte spannend und die grundlegenden philosophischen Fragen zu Bewusstsein & Co aktuell.
32 The Last Stop in Yuma County
Eine klassische Eskalationsspirale der Marke Coen Brothers, die hier fast ausschließlich in einem Diner an der letzten Tankstelle vor Wüste stattfindend.
33 Poor Things Disney+
Lanthimos klinisch-negativer Menschenblick rettet „Poor Things“ oft vom Abdriften in ein Gilliam-esques Theater und erhält dem Film die notwendige Gemeinheit in seinem Märchen des Bösen.
34 It’s What’s Inside Netflix
Greg Jardins Debütspielfilm (zu dem er auch das Drehbuch geschrieben hat) ist ein fresher Millenials-Horror, der genug Überraschungen bereithält, um durchgängig zu unterhalten.
35 The Settlers mubi
Ein stiller Western aus dem Süden, ein Roadmovie durch ein Land ohne Straßen, das in seiner nebligen Größe manchmal sogar an Herzogs Südamerika-Expeditionen mit „Aguirre“ erinnern.
36 The Bikeriders
Die affirmative Direktheit der Bikerploitation-Filme der 60er ist eine Ecke entfernt, dafür spiegelt „Bikeriders“ aber auch immer die tragische Seite eines Lebens am Rand der Gesellschaft.
37 Seven Veils
Atom Egoyan nimmt eine Opern-Aufführung als Ankerpunkt, um eine Geschichte über Machtmissbrauch in Beruf, Kunst und Familie zu erzählen.
38 Hit Man
Richard Linklaters Komödie ist auch eine Gechichte über das Wesen von Schauspiel und die Frage nach Authentizität, aber verpackt in eine herrlich leichtfüßige Erzählung. Einer seiner massentauglichsten Filme überhaupt, eine romantische Thriller-Komödie über einen falschen Auftragsmörder.
39 Through the Graves the Wind Is Blowing
In harschem Schwarzweiß erzählt Travis Wilkerson die Geschichte des modernen Kroatiens seit den 40ern.
40 Are You There God? It’s Me, Margaret.
12jährige Mädchen auf der Suche nach Zugehörigkeit, der Jagd nach der ersten Periode und zur Frage der richtigen Religion. „Are You There God? It’s Me, Margaret.“ ist ein launiger, aber doch ernsthafter Coming-Of-Age-Film, der voll guten Mutes über seine 12jährige Protagonistin spricht.
41 Watchmen: Chapter I
Eine sehr werkgetreue, animierte Version von Alan Moores großem Meisterwerk, das zuletzt vor 15 Jahren von Zack Snyder in einer durchaus umstrittenen, aber letztlich doch mitreissenden Live-Action-Version auf die Leinwand gebracht wurde.
42 Exhuma
Trotz 140 Minuten Laufzeit sowie allem möglichen Humbug (Geister, Dämonen, japanische Monsterkrieger, Grabstätten-Feng-Shui) ist der südkoreanische Gespenster-Film „Exhuma“ durchweg griffig und mitreißend erzählt.
43 Yes Chef! / Boiling Point
Ein Abend in einer Sternen-Küche mit einem Vier-Gang-Menü aus Chaos, Anxiety, Ärger und Hektik.
44 The Sweet East
„The Sweet East“ wirft QAnon und Antifa, religiösen Fundamentalismus und die Wokerati in den Weg seiner Protagonistin und so zeichnet Sean Price Williams Film einen bizarren, von den Extremen getriebenen Moment der USA des Jetzt. Dabei wirkt „The Sweet East“ immer wie durch den Schleier eines Traums gesehen, wie ein Sofia-Coppola-Film von unten, mit der Kraft des Do It Yourself.
45 In Liebe Eure Hilde
Vielleicht nicht auf jeder Ebene gelungener Film, aber einer, der am Ende so einen emotionalen Eindruck hinterlässt, dass er eben doch beeindruckt.
46 Weihnachten im Anflug / An Almost Christmas Story Disney+
Ein angenehmer Hauch von Indie Attitude weht durch dieses Fastweihnachtsmärchen.
47 Back to Black Amazon Prime
Allein aufgrund einer fantastischen Szene im „Good Mixer“ in Camden zu den Klängen der Shangri-Las schon sehenswert.
48 Schock Netflix
Formal toller Neo-Noir um einen Arzt der Unterwelt, der beim verzweifelten Einhalten seiner Heil-Versprechen in immer tieferen Verbrechensstrudel gerät.
49 LOLA
Visuell smart gemachter Film über zwei Schwestern im Großbritannien der 40er, die eine Maschine erfinden, die Übertragungen aus der Zukunft empfangen kann.
50 The Strangers’ Case
Man kann BrandtAnderson womöglich vorwerfen, dass er sein Migrationsdrama mit den Mitteln des Hollywood-Kinos so griffig macht, aber wo steht geschrieben, dass ein Drama über Geflüchtete sperrig sein muss, nicht einnehmend sein darf oder gar spannend, emotional mitreißend?
Die Vorjahressieger:
2023: Roter Himmel (D, Regie: Christian Petzold)
2022: The Worst Person In The World (NOR, Regie: Joachim Trier)
2021: Titane (F, Regie: Julia Ducournau)
2020: Enfant Terrible (D, Regie: Oskar Roehler)
2019: Midsommar (USA, Regie: Ari Aster)
2018: Hereditary (USA, Regie: Ari Aster)
2017: RAW (F/BEL, Regie: Julia Ducournau)
2016: Green Room (USA, Regie: Jeremy Saulnier)
2015: Victoria (D, Regie: Sebastian Schipper)
2014: Boyhood (USA, Regie: Richard Linklater)
2013: Upstream Colour (USA, Regie: Shane Carruth)
2012: Drive (USA, Regie: Nicolas Winding Refn)
2011: Submarine (UK, Regie: Richard Aoyade)
2010: Bad Lieutenant: Port Of Call – New Orleans (USA, Regie: Werner Herzog)
2009: Inglorious Basterds (USA, Regie: Quentin Tarantino)
2008: No Country For Old Men (USA, Regie: Joel & Ethan Coen)
2007: Ex Drummer (Belgien, Regie: Koen Mortier)
2006: Match Point (USA, Regie: Woody Allen)
Beide wirklich sehr gut!