Wie Jean-Philipp Baeck bereits am 5. Dezember in einem Kommentar im redaktionellen Teil der taz erwähnte, ich aber erst jetzt (anläßlich der GFF-Pressemitteilung zur Verfassungsbeschwerde von Fabian Kienert [Radio Dreyeckland]1) mitbekam, ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen den Chefredakteur der Webseite FragDenStaat, Arne Semsrott.
I.
Anlaß:
1. Semsrott veröffentlichte
a) einen Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts München aus dem Ermittlungsverfahren gegen vermeintliche Mitglieder der vermeintlich Kriminellen (§ 129 StGB) Vereinigung „Letzte Generation“ sowie zwei weitere Beschlüsse desselben Gerichts aus diesem Verfahren (siehe: https://fragdenstaat.org/blog/2023/08/22/hier-sind-die-gerichtsbeschlusse-zur-letzten-generation/)
und
b) den Beschluß des Landgerichts Karlsruhe, mit dem dieses die Eröffnung des strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen den Journalisten Fabian Kienert wegen seines Artikels vom 30.07.2022 auf der Webseite von Radio Dreyeckland, ablehnte (später war das Hauptverfahren dann vom Oberlandesgericht Stuttgart doch eröffnet worden2. Die mündliche Verhandlung gegen Kienert wird nicht vor dem März 2024 stattfinden; bis dahin soll ein kürzlich beauftragter IT-Forensiker sein schriftliches Vorgutachten erstellen, wie mir die Pressestelle des Landgerichts Karlsruhe gestern abend mitteilte [worum es in dem Gutachten gehen soll, wird morgen in einem weiteren Artikel erklärt]).
2. § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch bestimmt: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. […], 3. die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens […] ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist.“
II.
Ich fordere ausdrücklich auf, die vorstehend verlinkten FragDenStaat-Seiten zu besuchen und die dort veröffentlichten Beschlüsse zu lesen. Denn ich selbst hatte aus dem Münchener Durchsuchungsbeschluß und dem Karlsruher Nicht-Eröffnungsbeschluß, unmittelbar nachdem sie ergangenen waren, in „Teilen im Wortlaut öffentlich“ zitiert3 – nämlich in meinen taz-Blogs-Artikeln (zu dem Münchener Beschluß)
- vom 26.05.2023 (Einleitung sowie Teil I)
- vom 27.05.2023 (Teil II und III sowie Teil IV)
- vom 28.05.2023 (Resümee)und
- vom 30.05.2023 (Nachtrag I)sowie in meinem Artikel in der Freitag-Community (zum Karlsruher Beschluß)
- vom 19.05.2023.
Ich fordere insbesondere die – besonders gern gesehenen 🙂 – kritischen (das heißt: selber denkenden) LeserInnen auf zu überprüfen,
- ob ich akkurat zitiert habe (oder vielmehr aus dem Münchener Durchsuchungsbeschluß relevante Argumente und Tatsachenbehauptungen des Gerichts unterschlagen habe)und
- ob ich aus den beiden Beschlüssen „in wesentlichen Teilen“ oder nur in ‚unwesentlichen‘ Teilen wörtlich zitiert habe.
III.
Ich wurde jedenfalls bisher nicht darüber informiert, daß gegen mich wegen des wörtlichen Zitierens ermittelt werde – obwohl ich in einer Nachbemerkung (Strafbarkeit, vor öffentl[icher] Verhandlung „wesentliche Teile“ von Dokumenten eines Strafverfahrens wörtlich zu zitieren) zu meiner taz-Blogs-Serie zu dem Münchener Beschluß ausdrücklich auf § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch hinwies…
IV.
Arne Semsrott hat im übrigen nicht nur die fraglichen Gerichtsentscheidungen, sondern auch ein Schreiben seines Verteidigers Lukas Theune an die Berliner Staatsanwaltschaft veröffentlicht. Dort wird unter anderem auf einen Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe und ein Urteil des Bundesgerichtshofs hingewiesen:
Der Beschluß des OLG Karlsruhe vom 01.04.2020 zum Aktenzeichen 2 VAs 1/20 ist bisher nur in der – kostenpflichtigen – rechtswissenschaftlichen Datenbank juris veröffentlicht; in der Karlsruher Entscheidung heißt es bei juris-Textziffer 30:
„Dass die Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke eines Strafverfahrens ganz oder in wesentlichen Teilen im Wortlaut in § 353d Abs. 3 StGB unter Strafe gestellt ist, solange sie nicht in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist, führt […] nicht dazu, dass eine Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen vor rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Denn insoweit ist anerkannt, dass sich aus der Rechtspflicht der Gerichte zur Publikation veröffentlichungswürdiger Entscheidungen auch vor deren Rechtskraft jedenfalls ein eigenständiger (regelmäßig in den Pressegesetzen der Länder kodifizierter) Rechtfertigungsgrund ergibt, wonach Entscheidungsveröffentlichungen nach Abwägung der widerstreitenden Interessen (sachgemäße Durchführung des Verfahrens, Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und Informationsinteresse der Allgemeinheit bzw. der berufsmäßig interessierten Fachöffentlichkeit) jedenfalls dann gerechtfertigt sind, wenn die regelmäßig notwendige Anonymisierung hinsichtlich persönlicher Angaben und Umstände beachtet werden (vgl. Münch.Komm./Puschke, 3. Aufl. 2019, § 353d StGB, Rn. 75).“
Das Urteil des Bundesgerichthofs vom 16.05.2023 zum Aktenzeichen VI ZR 116/22 ist dagegen unter anderem auf der Webseite des BGH veröffentlicht – also kostenfrei zugänglich; in dieser Entscheidung heißt es bei Textziffer 18:
„Mit dem Inhalt, der der Norm [§ 353d Nr. 3 StGB] nach dem bisherigen Verständnis zukommt, kann die Bestimmung […] im Einzelfall in Konflikt nicht nur mit Art. 5 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, AfP 2014, 435, juris Rn. 40), sondern auch mit Art. 10 EMRK geraten. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die strafrechtliche Sanktionierung einer portugiesischen Journalistin, die in einer Nachrichtensendung des nationalen Fernsehsenders SIC über Vorwürfe gegen einen hochrangigen Polizeibeamten berichtet und ein Faksimile der Anklageschrift gezeigt hatte, als Verstoß gegen Art. 10 EMRK angesehen. Der Gerichtshof sah den Konventionsverstoß darin, dass die Journalistin allein und gewissermaßen automatisch wegen der – in Artikel 88 der portugiesischen Strafprozessordnung untersagten – Veröffentlichung der Anklageschrift zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, ohne dass eine Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung oder der Unschuldsvermutung festgestellt worden und mit den Rechten der Journalistin auf Meinungsfreiheit und Information der Öffentlichkeit abgewogen worden war (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011, Pinto Coelho v. Portugal – 28439/08; […]).“ (https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=134177&anz=1&pos=0&Frame=4&.pdf)
Die fragliche Entscheidung des EGMR steht unter der Adresse https://hudoc.echr.coe.int/fre?i=001-105409 auf Französisch zur Verfügung.
V.
Schließlich sei noch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin hingewiesen; dort ging es unter anderem um die Frage, ob die Veröffentlichung einer Gerichtsentscheidung die „sachgerechte“ Durchführung eines anderen, noch anhängigen Verfahrens gefährde:
„Insbesondere spricht nichts dafür, dass durch eine Veröffentlichung einer anonymisierten Fassung des Urteils die sachgerechte Durchführung des weiteren Gerichtsverfahrens oder eines anderen eventuell schwebenden Verfahrens (z.B. eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das möglicherweise gegen den Antragsteller eingeleitet worden ist) vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte (vgl. dazu § 4 Abs. 2 Nr. 3 Berliner Pressegesetz). Konkrete Anhaltspunkte, die die Gefahr einer entsprechenden Beeinträchtigung eines solchen Verfahrens nahelegen, geschweige denn unmittelbar und dringend nahelegen (vgl. BVerfG a.a.O.4 Rn. 24; s.a. VG Berlin, Beschluss vom 26. Januar 2017 – VG 27 L 43.17 –5, juris Rn. 216 m.w.N.), sind weder vorgetragen noch ansonsten ersichtlich.“
(VG Berlin, Beschluß vom 27.02.2020 zum Aktenzeichen 27 L 43/20, Textziffer 15; Hv. hinzugefügt)
§ 4 des Berliner Pressegesetzes lautet:
„(1) Die Behörden sind verpflichtet, den Vertretern der Presse, die sich als solche ausweisen, zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe Auskünfte zu erteilen.
(2) Auskünfte können nur verweigert werden, soweit
1. Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen oder
2. Maßnahmen ihrem Wesen nach dauernd oder zeitweise geheimgehalten werden müssen, weil ihre Bekanntgabe oder ihre vorzeitige Bekanntgabe die öffentlichen Interessen schädigen oder gefährden würde oder
3. hierdurch die sachgerechte Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte oder
4. ein schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde.
(3) Allgemeine Anordnungen, die einer Behörde Auskünfte an die Presse verbieten, sind unzulässig.“
(https://gesetze.berlin.de/perma?d=jlr-PresseGBEV13P)
Die Pressegesetze der anderen Bundesländer enthalten ähnliche oder sogar gleichlautende Formulierungen – zumeist ebenfalls in § 4. Zu dem dort jeweils geregelten presserechtlichen Auskunftsanspruch siehe:
Peter Nowak, Journalistin erstreitet Aktenzugang,
in: menschen machen medien vom 19.12.2023 –
zu einer von mir gerade erstrittenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gera vom 11.12.2023 (Aktenzeichen: 2 E 1180/23 Ge) gegen das Amtsgericht Gera, das mir seine Durchsuchungsbeschlüsse gegen AntifaschistInnen, die am 8. November vollstreckt worden waren [s. dazu taz-Blogs vom selben Tage], verweigert hatte).
PS.:
Kollege Semsrott bekam den Münchener Durchsuchungsbeschluß augenscheinlich von einer der durchsuchungsbetroffenen Personen, weshalb er den Durchsuchungsbeschluß mit dem farbigem Wappen des Amtsgerichts München und vollständigem Aktenzeichen veröffentlichen konnte, während mir das Amtsgericht nur ein schnödes schwarz-weiß-Digitalisat mit teilweise geweißtem Aktenzeichen – und dem warnenden Zeigefinger auf § 353d Nr. 3 StGB, den ich freilich schon vorher kannte – geschickt hatte.
1 „Die Verfassungsbeschwerde der GFF mit Fabian Kienert reiht sich ein in mehrere Verfahren, mit denen die Organisation derzeit für einen besseren Schutz der Pressefreiheit in Deutschland kämpft. […]. Außerdem unterstützt die GFF Arne Semsrott, den Chefredakteur von FragDenStaat, in einem gegen ihn geführten Strafverfahren wegen der verbotenen Mitteilung über Gerichtsverhandlungen.“
2 Siehe dazu kritisch: taz-Blogs vom 13.06., 18.06. und 08.07. (weitere Fortsetzung ist eigentlich schon weitgehend fertig, aber ich komme – wegen aktuellerer Dinge – nicht zur Schlußredaktion).
3 Insofern ist dem Kollegen Semsrott eine kleine Ungenauigkeit unterlaufen als er schrieb: „Deswegen [wegen § 353d Nr. 3 StGB] schreckten Medien in Deutschland bisher davor zurück, aus den [Münchener Durchsuchungs]Beschlüssen zu zitieren und diese im Detail zu besprechen.“ (https://fragdenstaat.org/blog/2023/08/22/hier-sind-die-gerichtsbeschlusse-zur-letzten-generation/)
4 Beschluß vom 14.09.2015 zum Aktenzeichen 1 BvR 857/15.
5 https://gesetze.berlin.de/perma?d=JURE170031271.
6 „Nach dieser Vorschrift [§ 4 Abs. 2 Nr. 3 PresseG Bln] können Auskünfte verweigert werden, soweit hierdurch die sachgerechte Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte. Dieses Auskunftsverweigerungsrecht ist zur Wahrung der wertsetzenden Bedeutung der Presse- und Rundfunkfreiheit, die den presserechtlichen Auskunftsanspruch als einen speziellen Aspekt einschließt, nur bei einer konkreten und gewichtigen Gefährdung eines schwebenden Verfahrens anzuerkennen (OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 19; Burkhardt in Löffler, Presserecht, 6. Auflage 2015, § 4 LPG Rn. 106 m.w.N.).“
Ich hatte gestern angekündigt:
Nun gibt es eine kleine Planänderung: Diese Erklärung wird erst am Freitag im Rahmen eines Artikel, der dann weitere Neuigkeiten enthalten wird, kommen.